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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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gnug der Thatsache, daß es in der Glanzepoche der griechischen Kunst keine
Kunst neben der attischen gab. Die herrlichsten Kunstschätze, welche die Ebene
von Olympia zierten, waren Werke attischer Kunst. Die Perle derselben, das
Goldelsenbeinbild des Olympiers, das gefeierte Werk des Phidias, ist unwider-
briuglich dahin, und von den zahllosen Erzfiguren -- es soll ein ganzer Wald
gewesen sein -- wird schwerlich jemals eine wieder das Tageslicht erblicken.
Das schimmernde Metall reizte die Raublust der Barbaren, die zweimal in
das stille Thal des Alpheios einbrachen. Aber zwei Werke attischer Kunst hat
uns dennoch ein glücklicher Zufall erhalten, zwei Werke, die unsere Kenntniß
der griechischen Kunst auf das Glücklichste bereichern, die uns aber zugleich
schwere Räthsel aufgeben: Die Nike des Paionios und den Hermes
des Praxiteles.

Das Werk des Ersteren ist nicht blos durch das Zeugniß des Pausanias,
sondern auch durch die Zuschrift auf der ebenfalls mit aufgefundenen Basis
gesichert. Die Inschrift erzählt uns, daß die Messenier und Naupaktier das
Werk dem olympischen Zeus vom Zehnten der Kriegesbeute geweiht haben, die
sie den Feinden abgenommen, und daß sie Paionios von Meute verfertigt
habe, der auch bei der Verfertigung der Giebelgruppen der Sieger war. Pau¬
sanias erläutert diese Inschrift, die scheinbar geflissentlich den Namen der
Feinde umgeht, dahin, daß die Lakedämonier damit gemeint seien, welche die
Messenier in Gemeinschaft mit den Athenern im Jahre 425 v. Chr. auf der
Insel Sphakteria gefangen genommen. Paionios war diesmal glücklicher in
der Wahl seines Marmorarbeiters. Es war unzweifelhaft einer, der in den
Athemlöcher Werkstätten gelernt hatte. Vielleicht ist die Statue sogar in Athen
unter den Augen des Meisters und unter seiner Beihilfe gearbeitet worden.
Die Schwierigkeit des Transportes spräche nicht dagegen. Denn die Statue
besteht, soviel wir noch jetzt sehen -- Kopf, Arme, Flügel und der linke Fuß
fehlen --, aus zwei Marmorblöcken, die an Ort und Stelle zusammengesetzt
werden konnten.

Die Nike stand auf einem dreieckigen, sich nach oben verjüngenden, etwa
fünfzehn Fuß hohen Postament, das aus sieben Marmorblöcken bestand, welche
auf einer Basis von zwei Kalksteinblöcken standen. Der Künstler hat sich die
Siegesgöttin in dem Augenblick gedacht, wie sie, vielleicht mit Kranz und
Palme in den Händen, vom Olympos herabschwebt, um dem beglückten Sterb¬
lichen den Siegespreis zu überreichen. Bei der heftigen Bewegung des stür¬
mischen Fluges ist ihr das Gewand von der linken Schulter herabgeglitten,
und der jungfräuliche, stark naturalistisch gebildete Busen ist dadurch frei
geworden. Während der rechte Fuß noch die Basis berührt, tritt der linke,
fast bis zur Hälfte entblößt, aus der prächtigen Fluth der sich nach rückwärts


gnug der Thatsache, daß es in der Glanzepoche der griechischen Kunst keine
Kunst neben der attischen gab. Die herrlichsten Kunstschätze, welche die Ebene
von Olympia zierten, waren Werke attischer Kunst. Die Perle derselben, das
Goldelsenbeinbild des Olympiers, das gefeierte Werk des Phidias, ist unwider-
briuglich dahin, und von den zahllosen Erzfiguren — es soll ein ganzer Wald
gewesen sein — wird schwerlich jemals eine wieder das Tageslicht erblicken.
Das schimmernde Metall reizte die Raublust der Barbaren, die zweimal in
das stille Thal des Alpheios einbrachen. Aber zwei Werke attischer Kunst hat
uns dennoch ein glücklicher Zufall erhalten, zwei Werke, die unsere Kenntniß
der griechischen Kunst auf das Glücklichste bereichern, die uns aber zugleich
schwere Räthsel aufgeben: Die Nike des Paionios und den Hermes
des Praxiteles.

Das Werk des Ersteren ist nicht blos durch das Zeugniß des Pausanias,
sondern auch durch die Zuschrift auf der ebenfalls mit aufgefundenen Basis
gesichert. Die Inschrift erzählt uns, daß die Messenier und Naupaktier das
Werk dem olympischen Zeus vom Zehnten der Kriegesbeute geweiht haben, die
sie den Feinden abgenommen, und daß sie Paionios von Meute verfertigt
habe, der auch bei der Verfertigung der Giebelgruppen der Sieger war. Pau¬
sanias erläutert diese Inschrift, die scheinbar geflissentlich den Namen der
Feinde umgeht, dahin, daß die Lakedämonier damit gemeint seien, welche die
Messenier in Gemeinschaft mit den Athenern im Jahre 425 v. Chr. auf der
Insel Sphakteria gefangen genommen. Paionios war diesmal glücklicher in
der Wahl seines Marmorarbeiters. Es war unzweifelhaft einer, der in den
Athemlöcher Werkstätten gelernt hatte. Vielleicht ist die Statue sogar in Athen
unter den Augen des Meisters und unter seiner Beihilfe gearbeitet worden.
Die Schwierigkeit des Transportes spräche nicht dagegen. Denn die Statue
besteht, soviel wir noch jetzt sehen — Kopf, Arme, Flügel und der linke Fuß
fehlen —, aus zwei Marmorblöcken, die an Ort und Stelle zusammengesetzt
werden konnten.

Die Nike stand auf einem dreieckigen, sich nach oben verjüngenden, etwa
fünfzehn Fuß hohen Postament, das aus sieben Marmorblöcken bestand, welche
auf einer Basis von zwei Kalksteinblöcken standen. Der Künstler hat sich die
Siegesgöttin in dem Augenblick gedacht, wie sie, vielleicht mit Kranz und
Palme in den Händen, vom Olympos herabschwebt, um dem beglückten Sterb¬
lichen den Siegespreis zu überreichen. Bei der heftigen Bewegung des stür¬
mischen Fluges ist ihr das Gewand von der linken Schulter herabgeglitten,
und der jungfräuliche, stark naturalistisch gebildete Busen ist dadurch frei
geworden. Während der rechte Fuß noch die Basis berührt, tritt der linke,
fast bis zur Hälfte entblößt, aus der prächtigen Fluth der sich nach rückwärts


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/268>, abgerufen am 05.02.2025.