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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Seele Geist, der Geist freier Wille wird. Abgesehen von den Erschleichungen,
deren sich die dialektische Methode Hegel's schuldig macht, krankt inhaltlich sein
System daran, daß er die spezifischen Differenzen zwischen Nothwendigkeit und
Freiheit. Bewußtlosigkeit und Bewußtsein auf graduelle Differenzen zurückführt.

Schopenhauer steht ebenfalls auf dem Boden der Evolutionstheorie,
doch sind ihm die Entwicklungsstufen uicht objektiver, sondern subjektiver Natur,
verschiedene Betrachtungsweisen. Als Atheist findet er weder für die Welt als
Ganzes, noch für das individuelle Seelenleben eine Einheit. Die Elemente des
blinden bewußtlosen Willens, der das Wesen der Dinge bildet, und des acci-
dentellen Bewußtseins sind nur zufällig und zeitweilig mit einander verknüpft.

Herbart faßt die Psychologie als Mechanik des Vorstellens auf meta¬
physischer Basis. Wie alle Metaphysik die Widersprüche, die unseren Erfahrungs-
begriffeu anhaften, zu lösen hat, so hat die Psychologie deu Widerspruch zu
beseitigen, der im Begriff des Selbstbewußtseins enthalten ist. Daß aber hier
ein solcher vorliegt, ist eine Behauptung Herbart's, sür die er keinen stichhaltigen
Beweis geliefert hat. Die Seele ist ihm ein einfaches Wesen unbekannter
Qualität, eine unveränderliche, alle Mannichfaltigkeit von sich ausschließende Sub¬
stanz. Der erfahrungsmäßige reiche Inhalt des Seelenlebens entspringt ans
dem Zusammensein einer Vielheit solcher einfacher Wesen. Da die Seele aber als
absolut gedacht ist, so widerspricht eine Vielheit von Erscheinungsformen dem
Begriff der Seele. Und da diese Vielheit an sich zusammenhangslos sein soll, so
kann nicht begriffen werden, wie sie doch in einem Zusammenhange stehend zu denken
ist. Es werde nun, fährt Herbart fort, jedes dieser Wesen seine Qualität an
dem andern geltend machen, dasselbe in seiner Qualität stören, hier aber auch
Widerstand finden, der aus dem Streben nach Selbsterhaltung entspringt. Wie
aber ein absolutes Wesen in seiner Qualität gestört werden kann und sich zur
Selbsterhaltung aufraffen muß, ist nicht einzusehen. Und ebenso läßt sich
nicht begreifen, wie diese Vorgänge statt haben sollen, wenn, wie die Voraus¬
setzung ist, diesen Wesen alle Kräfte und Vermögen fehlen, ohne welche sie ihre
Qualitäten doch nicht zur Geltung bringen können. Der Kardinalfehler dieser
Psychologie ist es aber, daß sie die Seele als ein willenloses bewegliches Ding
ansieht, daß sie auf willkührlicher Gleichsetzung der materiellen mit den psychischen
Erscheinungen ruht. Der Psychologie als Mechanik des Vorstellens liegt ein
sehr beschränkter Kreis psychischer Theorie zu Grunde, wenn sie das Wesen
und das Leben der Seele allein aus ihren Selbsterhaltungen gegen zufällige
Störungen glaubt begreifen zu können. Sie wird der ethischen Natur der
Seele nicht gerecht.

Wir stehen am Schluß unsrer Berichterstattung. Ueber Herbart hinaus
hat Harms den Entwicklungsgang der Psychologie nicht verfolgt, wenn er es


Seele Geist, der Geist freier Wille wird. Abgesehen von den Erschleichungen,
deren sich die dialektische Methode Hegel's schuldig macht, krankt inhaltlich sein
System daran, daß er die spezifischen Differenzen zwischen Nothwendigkeit und
Freiheit. Bewußtlosigkeit und Bewußtsein auf graduelle Differenzen zurückführt.

Schopenhauer steht ebenfalls auf dem Boden der Evolutionstheorie,
doch sind ihm die Entwicklungsstufen uicht objektiver, sondern subjektiver Natur,
verschiedene Betrachtungsweisen. Als Atheist findet er weder für die Welt als
Ganzes, noch für das individuelle Seelenleben eine Einheit. Die Elemente des
blinden bewußtlosen Willens, der das Wesen der Dinge bildet, und des acci-
dentellen Bewußtseins sind nur zufällig und zeitweilig mit einander verknüpft.

Herbart faßt die Psychologie als Mechanik des Vorstellens auf meta¬
physischer Basis. Wie alle Metaphysik die Widersprüche, die unseren Erfahrungs-
begriffeu anhaften, zu lösen hat, so hat die Psychologie deu Widerspruch zu
beseitigen, der im Begriff des Selbstbewußtseins enthalten ist. Daß aber hier
ein solcher vorliegt, ist eine Behauptung Herbart's, sür die er keinen stichhaltigen
Beweis geliefert hat. Die Seele ist ihm ein einfaches Wesen unbekannter
Qualität, eine unveränderliche, alle Mannichfaltigkeit von sich ausschließende Sub¬
stanz. Der erfahrungsmäßige reiche Inhalt des Seelenlebens entspringt ans
dem Zusammensein einer Vielheit solcher einfacher Wesen. Da die Seele aber als
absolut gedacht ist, so widerspricht eine Vielheit von Erscheinungsformen dem
Begriff der Seele. Und da diese Vielheit an sich zusammenhangslos sein soll, so
kann nicht begriffen werden, wie sie doch in einem Zusammenhange stehend zu denken
ist. Es werde nun, fährt Herbart fort, jedes dieser Wesen seine Qualität an
dem andern geltend machen, dasselbe in seiner Qualität stören, hier aber auch
Widerstand finden, der aus dem Streben nach Selbsterhaltung entspringt. Wie
aber ein absolutes Wesen in seiner Qualität gestört werden kann und sich zur
Selbsterhaltung aufraffen muß, ist nicht einzusehen. Und ebenso läßt sich
nicht begreifen, wie diese Vorgänge statt haben sollen, wenn, wie die Voraus¬
setzung ist, diesen Wesen alle Kräfte und Vermögen fehlen, ohne welche sie ihre
Qualitäten doch nicht zur Geltung bringen können. Der Kardinalfehler dieser
Psychologie ist es aber, daß sie die Seele als ein willenloses bewegliches Ding
ansieht, daß sie auf willkührlicher Gleichsetzung der materiellen mit den psychischen
Erscheinungen ruht. Der Psychologie als Mechanik des Vorstellens liegt ein
sehr beschränkter Kreis psychischer Theorie zu Grunde, wenn sie das Wesen
und das Leben der Seele allein aus ihren Selbsterhaltungen gegen zufällige
Störungen glaubt begreifen zu können. Sie wird der ethischen Natur der
Seele nicht gerecht.

Wir stehen am Schluß unsrer Berichterstattung. Ueber Herbart hinaus
hat Harms den Entwicklungsgang der Psychologie nicht verfolgt, wenn er es


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[0178] Seele Geist, der Geist freier Wille wird. Abgesehen von den Erschleichungen, deren sich die dialektische Methode Hegel's schuldig macht, krankt inhaltlich sein System daran, daß er die spezifischen Differenzen zwischen Nothwendigkeit und Freiheit. Bewußtlosigkeit und Bewußtsein auf graduelle Differenzen zurückführt. Schopenhauer steht ebenfalls auf dem Boden der Evolutionstheorie, doch sind ihm die Entwicklungsstufen uicht objektiver, sondern subjektiver Natur, verschiedene Betrachtungsweisen. Als Atheist findet er weder für die Welt als Ganzes, noch für das individuelle Seelenleben eine Einheit. Die Elemente des blinden bewußtlosen Willens, der das Wesen der Dinge bildet, und des acci- dentellen Bewußtseins sind nur zufällig und zeitweilig mit einander verknüpft. Herbart faßt die Psychologie als Mechanik des Vorstellens auf meta¬ physischer Basis. Wie alle Metaphysik die Widersprüche, die unseren Erfahrungs- begriffeu anhaften, zu lösen hat, so hat die Psychologie deu Widerspruch zu beseitigen, der im Begriff des Selbstbewußtseins enthalten ist. Daß aber hier ein solcher vorliegt, ist eine Behauptung Herbart's, sür die er keinen stichhaltigen Beweis geliefert hat. Die Seele ist ihm ein einfaches Wesen unbekannter Qualität, eine unveränderliche, alle Mannichfaltigkeit von sich ausschließende Sub¬ stanz. Der erfahrungsmäßige reiche Inhalt des Seelenlebens entspringt ans dem Zusammensein einer Vielheit solcher einfacher Wesen. Da die Seele aber als absolut gedacht ist, so widerspricht eine Vielheit von Erscheinungsformen dem Begriff der Seele. Und da diese Vielheit an sich zusammenhangslos sein soll, so kann nicht begriffen werden, wie sie doch in einem Zusammenhange stehend zu denken ist. Es werde nun, fährt Herbart fort, jedes dieser Wesen seine Qualität an dem andern geltend machen, dasselbe in seiner Qualität stören, hier aber auch Widerstand finden, der aus dem Streben nach Selbsterhaltung entspringt. Wie aber ein absolutes Wesen in seiner Qualität gestört werden kann und sich zur Selbsterhaltung aufraffen muß, ist nicht einzusehen. Und ebenso läßt sich nicht begreifen, wie diese Vorgänge statt haben sollen, wenn, wie die Voraus¬ setzung ist, diesen Wesen alle Kräfte und Vermögen fehlen, ohne welche sie ihre Qualitäten doch nicht zur Geltung bringen können. Der Kardinalfehler dieser Psychologie ist es aber, daß sie die Seele als ein willenloses bewegliches Ding ansieht, daß sie auf willkührlicher Gleichsetzung der materiellen mit den psychischen Erscheinungen ruht. Der Psychologie als Mechanik des Vorstellens liegt ein sehr beschränkter Kreis psychischer Theorie zu Grunde, wenn sie das Wesen und das Leben der Seele allein aus ihren Selbsterhaltungen gegen zufällige Störungen glaubt begreifen zu können. Sie wird der ethischen Natur der Seele nicht gerecht. Wir stehen am Schluß unsrer Berichterstattung. Ueber Herbart hinaus hat Harms den Entwicklungsgang der Psychologie nicht verfolgt, wenn er es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/178>, abgerufen am 05.02.2025.