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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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die Entstehung der Empfindungen und in den Gedanken nur Gelegenheiten
für die Bewegungen des Körpers; Gott ist es, der diese und jene hervorbringt.
In Berkeley verwandelt sich der Okkasionalismns in einen theosophischen
Idealismus, der in der Körperwelt nur Erscheinungen in den Sinnen und
Vorstellungen aus den Sinnen erkennt.

Der Standpunkt Spinoza's ist nicht die innere Erfahrung, sondern die
aprioristische Vernunftthätigkeit, und so bescheidet er sich nicht bei der Thatsache,
daß es eine Vielheit einzelner geistiger Wesen gibt, um den Zusammenhang
derselben mit einer leiblichen Organisation zu untersuchen, sondern die That¬
sache der Pluralität geistiger Wesen selbst nach ihrer innern Möglichkeit bildet
das Problem, welches er sich stellt. Die Lösung desselben sucht er darin, daß
er in allen besonderen Dingen Modi der allein existirenden göttlichen Substanz
sieht, durch welche die Attribute Gottes -- Denken und Ausdehnung -- in be¬
schränkter Weise dargestellt werden.

Denken und Ausdehnung lassen sich nicht auf einander zurückführen, nur
in Gott find sie eins. Eben deshalb muß aber auch alles, was im Denken
ist, in der Ausdehnung sein und umgekehrt. Es kann daher keinen körperlosen
Geist und keine unbeseelte Materie geben. Beide müssen mit einander über¬
einstimmen; eine Veränderung in der Gedankenwelt ist zugleich eine Modifi¬
kation in der Welt der Ausdehnung, ebenso wie Veränderung in dieser Modi¬
fikationen jener zur Folge hat. In beiden wirkt die gleiche göttliche Kausalität.

Auf die Frage nach der Entstehung einer Welt von Einzelwesen, dem
Grundproblem, bleibt das System Spinoza's die Antwort schuldig. Da es
keine immanenten Kräfte der Dinge kennt, nur Existenzformen der Attribute
der einen Substanz, die in einem unendlichen Werden des einen aus dem andern
ohne Kausalität und Finalität begriffen sind, so kaun es die lösende Antwort
uicht geben. In der Lehre von dem ewigen Sein der Natura naturans und
dem unendlichen Werden der Natura naturata ist unvermittelt die Evolutions¬
theorie des Heraklit und der Akosmismus der Eleaten verbunden.

Daß im System Spinoza's die Individualität nicht zu ihrem Rechte
kommt, ist der eine Grundfehler desselben; die unrichtige Voraussetzung eines
Parallelismus zwischen Leib und Seele, welche dem Materialismus Vorschub
leistet, der andere.

Spinoza unterscheidet an der menschlichen Seele Verstand und Willen,
beide gehören nur der endlichen Welt an. Der Wille besteht im Bejahen und
Verneinen der Gedanken und ist daher abhängig vom Verstände, aber auch
kein Gedanke entsteht ohne Bejahung oder Verneinung des Willens, und so ist
auch das Denken abhängig vom Wollen. Konsequent mußte Spinoza den
Begriff der Seele negiren, da es wohl Thätigkeiten des Wollens und Denkens


Grenzboten IV, 1L78. 22

die Entstehung der Empfindungen und in den Gedanken nur Gelegenheiten
für die Bewegungen des Körpers; Gott ist es, der diese und jene hervorbringt.
In Berkeley verwandelt sich der Okkasionalismns in einen theosophischen
Idealismus, der in der Körperwelt nur Erscheinungen in den Sinnen und
Vorstellungen aus den Sinnen erkennt.

Der Standpunkt Spinoza's ist nicht die innere Erfahrung, sondern die
aprioristische Vernunftthätigkeit, und so bescheidet er sich nicht bei der Thatsache,
daß es eine Vielheit einzelner geistiger Wesen gibt, um den Zusammenhang
derselben mit einer leiblichen Organisation zu untersuchen, sondern die That¬
sache der Pluralität geistiger Wesen selbst nach ihrer innern Möglichkeit bildet
das Problem, welches er sich stellt. Die Lösung desselben sucht er darin, daß
er in allen besonderen Dingen Modi der allein existirenden göttlichen Substanz
sieht, durch welche die Attribute Gottes — Denken und Ausdehnung — in be¬
schränkter Weise dargestellt werden.

Denken und Ausdehnung lassen sich nicht auf einander zurückführen, nur
in Gott find sie eins. Eben deshalb muß aber auch alles, was im Denken
ist, in der Ausdehnung sein und umgekehrt. Es kann daher keinen körperlosen
Geist und keine unbeseelte Materie geben. Beide müssen mit einander über¬
einstimmen; eine Veränderung in der Gedankenwelt ist zugleich eine Modifi¬
kation in der Welt der Ausdehnung, ebenso wie Veränderung in dieser Modi¬
fikationen jener zur Folge hat. In beiden wirkt die gleiche göttliche Kausalität.

Auf die Frage nach der Entstehung einer Welt von Einzelwesen, dem
Grundproblem, bleibt das System Spinoza's die Antwort schuldig. Da es
keine immanenten Kräfte der Dinge kennt, nur Existenzformen der Attribute
der einen Substanz, die in einem unendlichen Werden des einen aus dem andern
ohne Kausalität und Finalität begriffen sind, so kaun es die lösende Antwort
uicht geben. In der Lehre von dem ewigen Sein der Natura naturans und
dem unendlichen Werden der Natura naturata ist unvermittelt die Evolutions¬
theorie des Heraklit und der Akosmismus der Eleaten verbunden.

Daß im System Spinoza's die Individualität nicht zu ihrem Rechte
kommt, ist der eine Grundfehler desselben; die unrichtige Voraussetzung eines
Parallelismus zwischen Leib und Seele, welche dem Materialismus Vorschub
leistet, der andere.

Spinoza unterscheidet an der menschlichen Seele Verstand und Willen,
beide gehören nur der endlichen Welt an. Der Wille besteht im Bejahen und
Verneinen der Gedanken und ist daher abhängig vom Verstände, aber auch
kein Gedanke entsteht ohne Bejahung oder Verneinung des Willens, und so ist
auch das Denken abhängig vom Wollen. Konsequent mußte Spinoza den
Begriff der Seele negiren, da es wohl Thätigkeiten des Wollens und Denkens


Grenzboten IV, 1L78. 22
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[0173] die Entstehung der Empfindungen und in den Gedanken nur Gelegenheiten für die Bewegungen des Körpers; Gott ist es, der diese und jene hervorbringt. In Berkeley verwandelt sich der Okkasionalismns in einen theosophischen Idealismus, der in der Körperwelt nur Erscheinungen in den Sinnen und Vorstellungen aus den Sinnen erkennt. Der Standpunkt Spinoza's ist nicht die innere Erfahrung, sondern die aprioristische Vernunftthätigkeit, und so bescheidet er sich nicht bei der Thatsache, daß es eine Vielheit einzelner geistiger Wesen gibt, um den Zusammenhang derselben mit einer leiblichen Organisation zu untersuchen, sondern die That¬ sache der Pluralität geistiger Wesen selbst nach ihrer innern Möglichkeit bildet das Problem, welches er sich stellt. Die Lösung desselben sucht er darin, daß er in allen besonderen Dingen Modi der allein existirenden göttlichen Substanz sieht, durch welche die Attribute Gottes — Denken und Ausdehnung — in be¬ schränkter Weise dargestellt werden. Denken und Ausdehnung lassen sich nicht auf einander zurückführen, nur in Gott find sie eins. Eben deshalb muß aber auch alles, was im Denken ist, in der Ausdehnung sein und umgekehrt. Es kann daher keinen körperlosen Geist und keine unbeseelte Materie geben. Beide müssen mit einander über¬ einstimmen; eine Veränderung in der Gedankenwelt ist zugleich eine Modifi¬ kation in der Welt der Ausdehnung, ebenso wie Veränderung in dieser Modi¬ fikationen jener zur Folge hat. In beiden wirkt die gleiche göttliche Kausalität. Auf die Frage nach der Entstehung einer Welt von Einzelwesen, dem Grundproblem, bleibt das System Spinoza's die Antwort schuldig. Da es keine immanenten Kräfte der Dinge kennt, nur Existenzformen der Attribute der einen Substanz, die in einem unendlichen Werden des einen aus dem andern ohne Kausalität und Finalität begriffen sind, so kaun es die lösende Antwort uicht geben. In der Lehre von dem ewigen Sein der Natura naturans und dem unendlichen Werden der Natura naturata ist unvermittelt die Evolutions¬ theorie des Heraklit und der Akosmismus der Eleaten verbunden. Daß im System Spinoza's die Individualität nicht zu ihrem Rechte kommt, ist der eine Grundfehler desselben; die unrichtige Voraussetzung eines Parallelismus zwischen Leib und Seele, welche dem Materialismus Vorschub leistet, der andere. Spinoza unterscheidet an der menschlichen Seele Verstand und Willen, beide gehören nur der endlichen Welt an. Der Wille besteht im Bejahen und Verneinen der Gedanken und ist daher abhängig vom Verstände, aber auch kein Gedanke entsteht ohne Bejahung oder Verneinung des Willens, und so ist auch das Denken abhängig vom Wollen. Konsequent mußte Spinoza den Begriff der Seele negiren, da es wohl Thätigkeiten des Wollens und Denkens Grenzboten IV, 1L78. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/173>, abgerufen am 05.02.2025.