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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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schiebe und im Gegensatze mit der vierten Ursache, der Materie, weshalb in
dem Begriffe des Geistes und der Seele die Verneinung des Begriffes der
Materie enthalten ist.

In der Pflanzenwelt ist die Seele ernährend und erzeugend, in der Thier¬
welt gewinnt sie die Kraft der Empfindung, in der Menschenwelt die Fähig¬
keit der Vernunft.

Alles Werden in der Natur ist durch ein ewig Seiendes, als seine
Ursache, bedingt. Dies ist die absolute Wirklichkeit der göttlichen Vernunft.
Von ihr kommt die der Seele eignende Vernunft. Da die Vielheit der einzel¬
nen Seelen nur aus dem pluralisirenden Prinzip der Materie stammt, siud sie
nicht unsterblich. Nur die in ihnen wirksame allgemeine göttliche Vernunft ist
der Vergänglichkeit entnommen. Aristoteles unterscheidet die Sinne, die em¬
pfinden, und die Vernunft, die denkt. Durch die Sinne minime die Seele die
Form der Dinge in sich ans. Eine dreifache Wahrnehmung findet durch die
Sinne statt, die eigenthiimliche jedes Sinnes nach seiner Energie; die gemein¬
same durch die Sinne vermittelte von Bewegung und Ruhe, von Zahl, Gestalt
und Größe; und die mittelbare Wahrnehmung der Sinne, z. B., daß das
Braune, das wir sehen, das Pferd des N. N. ist. Jeder Sinn ist zugleich
sein eigener innerer Sinn, er empfindet nicht nur etwas, sondern auch, daß er
empfindet. Die fünf verschiedenen Arten der Sinne werden von dem Gemein¬
sinne mit einander verbunden, der auch das den Sinnen Gemeinsame und ihre
Verschiedenheit empfindet, da jeder Sinn nur seine Empfindungsweise und nicht
der anderen Sinne Energie kennt. Mit dem Empfindungsleben ist aber Lust
und Schmerz und die ihnen folgende Begierde unmittelbar verbunden.

Phantasie und Gedächtniß sind eine Fortsetzung der Sinne, eine von den
Wirkungen der Sinne zurückgelassene Bewegung.

Dem Sinne entgegengesetzt ist die Vernunft, die nach einem doppelten Ge¬
sichtspunkt als leidende und thätige, als theoretische und praktische Vernunft
aufgefaßt wird. Denn der leidende Verstand kommt durch die göttliche stets
seiende und thätige Vernunft aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Was den
andern Gegensatz anlangt, so gibt auch Aristoteles der theoretischen Ver¬
nunft den Vorzug, ist ihm doch auch die göttliche Vernunft nnr erkennend, nicht
handelnd.

Epikur stellt die Physik in Abhängigkeit von der Ethik, sie ist nur das
Mittel, den Menschen von Furcht und Aberglauben zu befreien und so die
Glückseligkeit zu steigern. Als eine diesem Zweck angemessene Physik erscheint
ihm die materialistische Atomistik.

Auch der Stoizismus hebt den praktischen Zweck der Philosophie, Weis¬
heit zu vermitteln, stark hervor. Seine Physik hat aber mannichfache Vorzüge


schiebe und im Gegensatze mit der vierten Ursache, der Materie, weshalb in
dem Begriffe des Geistes und der Seele die Verneinung des Begriffes der
Materie enthalten ist.

In der Pflanzenwelt ist die Seele ernährend und erzeugend, in der Thier¬
welt gewinnt sie die Kraft der Empfindung, in der Menschenwelt die Fähig¬
keit der Vernunft.

Alles Werden in der Natur ist durch ein ewig Seiendes, als seine
Ursache, bedingt. Dies ist die absolute Wirklichkeit der göttlichen Vernunft.
Von ihr kommt die der Seele eignende Vernunft. Da die Vielheit der einzel¬
nen Seelen nur aus dem pluralisirenden Prinzip der Materie stammt, siud sie
nicht unsterblich. Nur die in ihnen wirksame allgemeine göttliche Vernunft ist
der Vergänglichkeit entnommen. Aristoteles unterscheidet die Sinne, die em¬
pfinden, und die Vernunft, die denkt. Durch die Sinne minime die Seele die
Form der Dinge in sich ans. Eine dreifache Wahrnehmung findet durch die
Sinne statt, die eigenthiimliche jedes Sinnes nach seiner Energie; die gemein¬
same durch die Sinne vermittelte von Bewegung und Ruhe, von Zahl, Gestalt
und Größe; und die mittelbare Wahrnehmung der Sinne, z. B., daß das
Braune, das wir sehen, das Pferd des N. N. ist. Jeder Sinn ist zugleich
sein eigener innerer Sinn, er empfindet nicht nur etwas, sondern auch, daß er
empfindet. Die fünf verschiedenen Arten der Sinne werden von dem Gemein¬
sinne mit einander verbunden, der auch das den Sinnen Gemeinsame und ihre
Verschiedenheit empfindet, da jeder Sinn nur seine Empfindungsweise und nicht
der anderen Sinne Energie kennt. Mit dem Empfindungsleben ist aber Lust
und Schmerz und die ihnen folgende Begierde unmittelbar verbunden.

Phantasie und Gedächtniß sind eine Fortsetzung der Sinne, eine von den
Wirkungen der Sinne zurückgelassene Bewegung.

Dem Sinne entgegengesetzt ist die Vernunft, die nach einem doppelten Ge¬
sichtspunkt als leidende und thätige, als theoretische und praktische Vernunft
aufgefaßt wird. Denn der leidende Verstand kommt durch die göttliche stets
seiende und thätige Vernunft aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Was den
andern Gegensatz anlangt, so gibt auch Aristoteles der theoretischen Ver¬
nunft den Vorzug, ist ihm doch auch die göttliche Vernunft nnr erkennend, nicht
handelnd.

Epikur stellt die Physik in Abhängigkeit von der Ethik, sie ist nur das
Mittel, den Menschen von Furcht und Aberglauben zu befreien und so die
Glückseligkeit zu steigern. Als eine diesem Zweck angemessene Physik erscheint
ihm die materialistische Atomistik.

Auch der Stoizismus hebt den praktischen Zweck der Philosophie, Weis¬
heit zu vermitteln, stark hervor. Seine Physik hat aber mannichfache Vorzüge


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[0169] schiebe und im Gegensatze mit der vierten Ursache, der Materie, weshalb in dem Begriffe des Geistes und der Seele die Verneinung des Begriffes der Materie enthalten ist. In der Pflanzenwelt ist die Seele ernährend und erzeugend, in der Thier¬ welt gewinnt sie die Kraft der Empfindung, in der Menschenwelt die Fähig¬ keit der Vernunft. Alles Werden in der Natur ist durch ein ewig Seiendes, als seine Ursache, bedingt. Dies ist die absolute Wirklichkeit der göttlichen Vernunft. Von ihr kommt die der Seele eignende Vernunft. Da die Vielheit der einzel¬ nen Seelen nur aus dem pluralisirenden Prinzip der Materie stammt, siud sie nicht unsterblich. Nur die in ihnen wirksame allgemeine göttliche Vernunft ist der Vergänglichkeit entnommen. Aristoteles unterscheidet die Sinne, die em¬ pfinden, und die Vernunft, die denkt. Durch die Sinne minime die Seele die Form der Dinge in sich ans. Eine dreifache Wahrnehmung findet durch die Sinne statt, die eigenthiimliche jedes Sinnes nach seiner Energie; die gemein¬ same durch die Sinne vermittelte von Bewegung und Ruhe, von Zahl, Gestalt und Größe; und die mittelbare Wahrnehmung der Sinne, z. B., daß das Braune, das wir sehen, das Pferd des N. N. ist. Jeder Sinn ist zugleich sein eigener innerer Sinn, er empfindet nicht nur etwas, sondern auch, daß er empfindet. Die fünf verschiedenen Arten der Sinne werden von dem Gemein¬ sinne mit einander verbunden, der auch das den Sinnen Gemeinsame und ihre Verschiedenheit empfindet, da jeder Sinn nur seine Empfindungsweise und nicht der anderen Sinne Energie kennt. Mit dem Empfindungsleben ist aber Lust und Schmerz und die ihnen folgende Begierde unmittelbar verbunden. Phantasie und Gedächtniß sind eine Fortsetzung der Sinne, eine von den Wirkungen der Sinne zurückgelassene Bewegung. Dem Sinne entgegengesetzt ist die Vernunft, die nach einem doppelten Ge¬ sichtspunkt als leidende und thätige, als theoretische und praktische Vernunft aufgefaßt wird. Denn der leidende Verstand kommt durch die göttliche stets seiende und thätige Vernunft aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Was den andern Gegensatz anlangt, so gibt auch Aristoteles der theoretischen Ver¬ nunft den Vorzug, ist ihm doch auch die göttliche Vernunft nnr erkennend, nicht handelnd. Epikur stellt die Physik in Abhängigkeit von der Ethik, sie ist nur das Mittel, den Menschen von Furcht und Aberglauben zu befreien und so die Glückseligkeit zu steigern. Als eine diesem Zweck angemessene Physik erscheint ihm die materialistische Atomistik. Auch der Stoizismus hebt den praktischen Zweck der Philosophie, Weis¬ heit zu vermitteln, stark hervor. Seine Physik hat aber mannichfache Vorzüge

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/169>, abgerufen am 05.02.2025.