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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Die Eleaten -- Xenophanes, Parmenides, Zenon, Melissus --
bestreiten die Realität des Werdens, sehen in der Natur nnr ein scheinbares
Werden und haben daher für Physik und Psychologie ein geringes Interesse.

Die Sophisten kennen keinen Begriff der Seele, sondern nnr Thatsachen
des Bewußtseins; die Seele ist ihnen nichts anderes, als eine Sammlung von
verfließenden Empfindungen und Begierden, Lust und Unlust, ohne ein statt¬
haftes Urtheil über Wahrheit und Irrthum, Gutes und Böses.

Hat bis dahin die Naturphilosophie deu Primat inne gehabt, so wird sie
durch Sokrates in eine bescheidenere Stellung geführt, sie muß Ethik und
Logik zu ihrem Rechte kommen lassen; bei Sokrates selbst wird die Physik
wenig beachtet, und die Psychologie erscheint fast nur als Ethik, die aber wieder
von Grundsätzen der Physik abhängig ist, durch welche sie leidet. So ist es
zu erklären, daß nicht der Wille das Prinzip der sittlichen Welt ist, sondern
die erkennende Intelligenz, deren Ideen, Begriffe und Gedanken als Kausali¬
täten aufgefaßt werden; daher denn alles Böse nur als Ergebniß des Unver¬
standes erscheint.

Für Platon ist die Seele die Vermittlung zwischen Vernunft und
Sinnenwelt, beiden Gebieten angehörig, Sterbliches und Unsterbliches in sich
vereinend. So stehen sich die denkende und begehrliche Seele einander gegen¬
über, zwischen ihnen die muthige, deren sich jene bedient zur Bestreitung dieser.

Diese drei Formen des Seelenlebens spiegeln sich in der Welt, denn die
Pflanzen reprüsentiren die begehrliche, die Thiere die muthige, der Mensch die
vernünftige Seele. Auch die Völker werden hiernach klassisizirt; in den Phöni¬
ziern und Egyptern, welche nach dem Erwerb der sinnlichen Güter trachten,
prävalirt die begehrliche Seele, bei deu nördlichen Barbaren die muthige und
in den Griechen die vernünftige Seele. In dem Menschen sind diesen Theilen
der Seele besondere körperliche Organe zugewiesen; die vernünftige Seele wohnt
im Kopfe, die muthige in Brust und Herz, die begehrliche im Unterleib.

Die vernünftige Seele ist präexistent, weil sie eine Idee ist, d. h. ein
wahres bleibendes Sein und Wesen, welches uuentstanden veränderliche Er¬
scheinungen bedingt. Und diese präexistirende Seele ist unsterblich. Es folgt
dies auch daraus, daß sie universell als Prinzip des Lebens gedacht ist, und
insofern kann sie ihrem Begriff nach nicht aufhören zu leben.

Die Psychologie als eine besondere Disziplin hat Aristoteles gegründet,
und zwar ist sie ihm ein Theil der Physik. Ihre Aufgabe ist, eine allgemeine
und vergleichende Wissenschaft von der lebendigen Natur der Pflanzen, der
Thiere und der Menschen hervorzubringen.

In dem Begriffe der Seele und des Geistes denkt sich Aristoteles eine Ein¬
heit der drei Ursachen, der Form, der Bewegung und des Zweckes im Unter-


Die Eleaten — Xenophanes, Parmenides, Zenon, Melissus —
bestreiten die Realität des Werdens, sehen in der Natur nnr ein scheinbares
Werden und haben daher für Physik und Psychologie ein geringes Interesse.

Die Sophisten kennen keinen Begriff der Seele, sondern nnr Thatsachen
des Bewußtseins; die Seele ist ihnen nichts anderes, als eine Sammlung von
verfließenden Empfindungen und Begierden, Lust und Unlust, ohne ein statt¬
haftes Urtheil über Wahrheit und Irrthum, Gutes und Böses.

Hat bis dahin die Naturphilosophie deu Primat inne gehabt, so wird sie
durch Sokrates in eine bescheidenere Stellung geführt, sie muß Ethik und
Logik zu ihrem Rechte kommen lassen; bei Sokrates selbst wird die Physik
wenig beachtet, und die Psychologie erscheint fast nur als Ethik, die aber wieder
von Grundsätzen der Physik abhängig ist, durch welche sie leidet. So ist es
zu erklären, daß nicht der Wille das Prinzip der sittlichen Welt ist, sondern
die erkennende Intelligenz, deren Ideen, Begriffe und Gedanken als Kausali¬
täten aufgefaßt werden; daher denn alles Böse nur als Ergebniß des Unver¬
standes erscheint.

Für Platon ist die Seele die Vermittlung zwischen Vernunft und
Sinnenwelt, beiden Gebieten angehörig, Sterbliches und Unsterbliches in sich
vereinend. So stehen sich die denkende und begehrliche Seele einander gegen¬
über, zwischen ihnen die muthige, deren sich jene bedient zur Bestreitung dieser.

Diese drei Formen des Seelenlebens spiegeln sich in der Welt, denn die
Pflanzen reprüsentiren die begehrliche, die Thiere die muthige, der Mensch die
vernünftige Seele. Auch die Völker werden hiernach klassisizirt; in den Phöni¬
ziern und Egyptern, welche nach dem Erwerb der sinnlichen Güter trachten,
prävalirt die begehrliche Seele, bei deu nördlichen Barbaren die muthige und
in den Griechen die vernünftige Seele. In dem Menschen sind diesen Theilen
der Seele besondere körperliche Organe zugewiesen; die vernünftige Seele wohnt
im Kopfe, die muthige in Brust und Herz, die begehrliche im Unterleib.

Die vernünftige Seele ist präexistent, weil sie eine Idee ist, d. h. ein
wahres bleibendes Sein und Wesen, welches uuentstanden veränderliche Er¬
scheinungen bedingt. Und diese präexistirende Seele ist unsterblich. Es folgt
dies auch daraus, daß sie universell als Prinzip des Lebens gedacht ist, und
insofern kann sie ihrem Begriff nach nicht aufhören zu leben.

Die Psychologie als eine besondere Disziplin hat Aristoteles gegründet,
und zwar ist sie ihm ein Theil der Physik. Ihre Aufgabe ist, eine allgemeine
und vergleichende Wissenschaft von der lebendigen Natur der Pflanzen, der
Thiere und der Menschen hervorzubringen.

In dem Begriffe der Seele und des Geistes denkt sich Aristoteles eine Ein¬
heit der drei Ursachen, der Form, der Bewegung und des Zweckes im Unter-


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[0168] Die Eleaten — Xenophanes, Parmenides, Zenon, Melissus — bestreiten die Realität des Werdens, sehen in der Natur nnr ein scheinbares Werden und haben daher für Physik und Psychologie ein geringes Interesse. Die Sophisten kennen keinen Begriff der Seele, sondern nnr Thatsachen des Bewußtseins; die Seele ist ihnen nichts anderes, als eine Sammlung von verfließenden Empfindungen und Begierden, Lust und Unlust, ohne ein statt¬ haftes Urtheil über Wahrheit und Irrthum, Gutes und Böses. Hat bis dahin die Naturphilosophie deu Primat inne gehabt, so wird sie durch Sokrates in eine bescheidenere Stellung geführt, sie muß Ethik und Logik zu ihrem Rechte kommen lassen; bei Sokrates selbst wird die Physik wenig beachtet, und die Psychologie erscheint fast nur als Ethik, die aber wieder von Grundsätzen der Physik abhängig ist, durch welche sie leidet. So ist es zu erklären, daß nicht der Wille das Prinzip der sittlichen Welt ist, sondern die erkennende Intelligenz, deren Ideen, Begriffe und Gedanken als Kausali¬ täten aufgefaßt werden; daher denn alles Böse nur als Ergebniß des Unver¬ standes erscheint. Für Platon ist die Seele die Vermittlung zwischen Vernunft und Sinnenwelt, beiden Gebieten angehörig, Sterbliches und Unsterbliches in sich vereinend. So stehen sich die denkende und begehrliche Seele einander gegen¬ über, zwischen ihnen die muthige, deren sich jene bedient zur Bestreitung dieser. Diese drei Formen des Seelenlebens spiegeln sich in der Welt, denn die Pflanzen reprüsentiren die begehrliche, die Thiere die muthige, der Mensch die vernünftige Seele. Auch die Völker werden hiernach klassisizirt; in den Phöni¬ ziern und Egyptern, welche nach dem Erwerb der sinnlichen Güter trachten, prävalirt die begehrliche Seele, bei deu nördlichen Barbaren die muthige und in den Griechen die vernünftige Seele. In dem Menschen sind diesen Theilen der Seele besondere körperliche Organe zugewiesen; die vernünftige Seele wohnt im Kopfe, die muthige in Brust und Herz, die begehrliche im Unterleib. Die vernünftige Seele ist präexistent, weil sie eine Idee ist, d. h. ein wahres bleibendes Sein und Wesen, welches uuentstanden veränderliche Er¬ scheinungen bedingt. Und diese präexistirende Seele ist unsterblich. Es folgt dies auch daraus, daß sie universell als Prinzip des Lebens gedacht ist, und insofern kann sie ihrem Begriff nach nicht aufhören zu leben. Die Psychologie als eine besondere Disziplin hat Aristoteles gegründet, und zwar ist sie ihm ein Theil der Physik. Ihre Aufgabe ist, eine allgemeine und vergleichende Wissenschaft von der lebendigen Natur der Pflanzen, der Thiere und der Menschen hervorzubringen. In dem Begriffe der Seele und des Geistes denkt sich Aristoteles eine Ein¬ heit der drei Ursachen, der Form, der Bewegung und des Zweckes im Unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/168>, abgerufen am 05.02.2025.