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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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Das Bezeichnende für alle diese Redner besteht darin, daß sie sich nicht
zu dem Kraftentschlnsse aufzuraffen vermochten, welchen die Lage so gebieterisch
fordert. Sie zeigten sich nicht durchdrungen von dem Außerordentlichen des
jetzigen Zustandes und bewahrten den Horizont wie unter normalen Verhält¬
nissen. Sowohl der erste Redner am 16. als der erste am 17. September,
Reichensperger und Hänel, Vertreter so verschiedener Richtungen, erkannten die
von der Sozialdemokratie drohenden Gefahren vollkommen an, wußten aber,
der eine nur ein offenbar ganz unzureichendes, der andere gar kein Mittel
gegen die Gefahren anzugeben. Der Vertreter des Zentrums, welches eben
erst bekundet, daß es aus reichsfeindlichen Gründen auch über die Grenzen des
Kulturkampfs hinaus die Rolle eines Vertheidigers bürgerlicher Freiheiten
fortzuspielen für räthlich hält, wetteiferte mit dem Fortschrittsmann in der Ab¬
wehr aller Freiheitsbeschränkungen, betonte den Mangel jener Garantieen und
ging mit Uebereifer in Ausmalung der durch den Ausdruck "Untergrabung"
der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung drohenden Gefahren weit
über sein eigenes Ziel. Abhülfe sieht Reichensperger nur durch .das Christen¬
thum; daneben dämmert es ihm aber doch, daß dies nicht das erste sein kann,
womit man Denjenigen gegenüber zu treten hat, welche auf denselben Ruf, als
er von den jetzt glücklicherweise seligen Christlich sozialen erhoben wurde, mit
Mafsenanstritt aus der Landeskirche antworteten; er will daher eine Ergän¬
zung des Strafgesetzbuchs dahin, daß auch die Aufstellung der Revolutions¬
theorie strafbar sein soll. Da wurde selbst dem konservativen Abgeordneten
von Helldorf der Hinweis leicht, daß ohne Präventivmaßregeln dem Uebel gar
nicht zu steuern ist. Derselbe hatte auch vollkommen recht mit seiner Mah¬
nung, daß in allen Berufsständen eine Hebung des sittlichen Ernstes sehr noth
thue; an dieser Stelle war das jedoch nur akademischer Vortrag, ebenso wie
seine Vorschläge gewisser politischer Reformen.

Was Huret betrifft, fo ließen sich zwar wieder einige seiner Brusttöne be¬
wundern, großer aber ist, selbst nach allem Früheren, noch unsere Verwunde¬
rung über seine bis zum Erschrecken unpraktische Richtung- Sollten wohl
wirklich Hänel's Berliner und Kieler Wähler der Meinung sein, daß sie aus
grundsätzlicher Achtung vor dem Rechte des Banditen auf bürgerliche Freiheit,
selbst dann zur raschen Nothwehr gegen denselben nicht schreiten dürften, wenn
dessen Hand sich bereits nach ihrer Kehle ausstreckt? Es mag im Allgemeinen
nicht ohne Werth sein, daß sich auch ein Hecht des puren "Idealismus" im
Karpfenteiche praktischer Gesetzgeber befindet, um diesen stets als warnendes
Beispiel für etwaige Anwandlungen ähnlicher Art zu dienen; es ist aber eine
geradezu betrübende Erscheinung, daß der Führer des sogenannten Fortschritts
mit dem Ansprüche hohen Ernstes und tiefer sittlicher Entrüstung über


Das Bezeichnende für alle diese Redner besteht darin, daß sie sich nicht
zu dem Kraftentschlnsse aufzuraffen vermochten, welchen die Lage so gebieterisch
fordert. Sie zeigten sich nicht durchdrungen von dem Außerordentlichen des
jetzigen Zustandes und bewahrten den Horizont wie unter normalen Verhält¬
nissen. Sowohl der erste Redner am 16. als der erste am 17. September,
Reichensperger und Hänel, Vertreter so verschiedener Richtungen, erkannten die
von der Sozialdemokratie drohenden Gefahren vollkommen an, wußten aber,
der eine nur ein offenbar ganz unzureichendes, der andere gar kein Mittel
gegen die Gefahren anzugeben. Der Vertreter des Zentrums, welches eben
erst bekundet, daß es aus reichsfeindlichen Gründen auch über die Grenzen des
Kulturkampfs hinaus die Rolle eines Vertheidigers bürgerlicher Freiheiten
fortzuspielen für räthlich hält, wetteiferte mit dem Fortschrittsmann in der Ab¬
wehr aller Freiheitsbeschränkungen, betonte den Mangel jener Garantieen und
ging mit Uebereifer in Ausmalung der durch den Ausdruck „Untergrabung"
der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung drohenden Gefahren weit
über sein eigenes Ziel. Abhülfe sieht Reichensperger nur durch .das Christen¬
thum; daneben dämmert es ihm aber doch, daß dies nicht das erste sein kann,
womit man Denjenigen gegenüber zu treten hat, welche auf denselben Ruf, als
er von den jetzt glücklicherweise seligen Christlich sozialen erhoben wurde, mit
Mafsenanstritt aus der Landeskirche antworteten; er will daher eine Ergän¬
zung des Strafgesetzbuchs dahin, daß auch die Aufstellung der Revolutions¬
theorie strafbar sein soll. Da wurde selbst dem konservativen Abgeordneten
von Helldorf der Hinweis leicht, daß ohne Präventivmaßregeln dem Uebel gar
nicht zu steuern ist. Derselbe hatte auch vollkommen recht mit seiner Mah¬
nung, daß in allen Berufsständen eine Hebung des sittlichen Ernstes sehr noth
thue; an dieser Stelle war das jedoch nur akademischer Vortrag, ebenso wie
seine Vorschläge gewisser politischer Reformen.

Was Huret betrifft, fo ließen sich zwar wieder einige seiner Brusttöne be¬
wundern, großer aber ist, selbst nach allem Früheren, noch unsere Verwunde¬
rung über seine bis zum Erschrecken unpraktische Richtung- Sollten wohl
wirklich Hänel's Berliner und Kieler Wähler der Meinung sein, daß sie aus
grundsätzlicher Achtung vor dem Rechte des Banditen auf bürgerliche Freiheit,
selbst dann zur raschen Nothwehr gegen denselben nicht schreiten dürften, wenn
dessen Hand sich bereits nach ihrer Kehle ausstreckt? Es mag im Allgemeinen
nicht ohne Werth sein, daß sich auch ein Hecht des puren „Idealismus" im
Karpfenteiche praktischer Gesetzgeber befindet, um diesen stets als warnendes
Beispiel für etwaige Anwandlungen ähnlicher Art zu dienen; es ist aber eine
geradezu betrübende Erscheinung, daß der Führer des sogenannten Fortschritts
mit dem Ansprüche hohen Ernstes und tiefer sittlicher Entrüstung über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/526>, abgerufen am 25.08.2024.