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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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großer Städte und Judnstriebezirke sich Gebiete der Abnahme befinden. Die
Städte saugen das Landvolk ans wie ein Schwamm die Feuchtigkeit. Zu den
Gebieten der Bevölkerungsabnahme haben die Gebirgsländer eben so ihr Kon¬
tingent gestellt wie die Flachländer. So weit es sich übersehen läßt, hat die
Höhenlage keineswegs die Ab- und Zunahme der Bevölkerung bedingt; eben¬
sowenig die Fruchtbarkeit des Bodens. Denn wir finden das unfruchtbare
sächsische Erzgebirge ebenso im Wachsthum begriffen wie die unfruchtbare Niede¬
rung in der Umgegend von Berlin. Das Ausschlaggebende wird vielmehr
allenthalben der vorherrschende Beruf gewisser Gegenden sein. Die vorwiegend
ackerbauenden Distrikte haben ihre Bevölkerung an die vorwiegend industriellen
Bezirke abgegeben. Der Vergleich eitler in das Detail gehenden Bernfskarte
mit der unsrigen würde jedenfalls vollständige Uebereinstimmung zwischen In¬
dustrie und Zunahme, zwischen Landwirthschaft und Abnahme konstatiren.
(Hasse). Die Karte zeigt Zunahme von 568 auf 1000 im genannten Zeitraum
für den Landkreis Essen und von 76" ans 1000 im Kreise Bochum! Ein Blick
auf eine Tabelle, welche das Wachsthum unserer Städte darstellt, zeigt ein
wasserkopfartiges Anschwellen, das die größten Bedenken wach rufen muß.
In deu 30 Jahren von 1845 bis 1875 ist z. B. gewachsen Berlin von 409,000
auf 068,000; Hamburg von 149,000 auf 264,000; Breslau von 112,000 auf
240,000; Köln von 90,000 auf 134,000; Leipzig von 55,000 auf 126,000
Einwohner. Und so ähnlich bei anderen Städten. Uebervölkerung und ungleiche
Verkeilung der Bevölkerung sind entschieden vorhanden und sind Grund und
Beförderungsmittel der sozialistischen Umtriebe.

Unter solchen Umständen mag es erlaubt sein wieder einmal die Frage
auszuwerfen, ob es uicht räthlich für Deutschland sei als Abzugskanäle über¬
seeische Pflanzstätten anzulegen? Es ist uns recht wohl bekannt, wie fehr man
in deu leitenden Kreisen Berlins gegen jede Art von Kolonisation und Erwerbung
überseeischen Besitzes eingenommen ist; noch frisch ist in unserm Gedächtniß,
daß 1871 die etwaige Erwerbung einer französischen Kolonie als Kompensation
für die Kriegskosten vielfach vom deutscher Seite empfohlen, von dem Fürsten
Bismark aber verworfen wurde. Trotzdem mag bei der Nothlage des Vater¬
lands in gegenwärtiger Zeit die Angelegenheit noch einmal zur Prüfung vor¬
gelegt werden. Vor mehr als zehn Jahren schon hat Ernst Friedel*) den
richtigen Anschauungen über das Kolonisationswesen mit Bezug auf Deutsch-



Atlas von Andres und Peschel, Tafel 20 -- ein lehrreiches Blatt zur Beurtheilung der
Freizügigkeit.
*) Die Gründung Preußisch-deutscher Kolonien im indischen und großen Ozean-
Berlin, 1367. "

großer Städte und Judnstriebezirke sich Gebiete der Abnahme befinden. Die
Städte saugen das Landvolk ans wie ein Schwamm die Feuchtigkeit. Zu den
Gebieten der Bevölkerungsabnahme haben die Gebirgsländer eben so ihr Kon¬
tingent gestellt wie die Flachländer. So weit es sich übersehen läßt, hat die
Höhenlage keineswegs die Ab- und Zunahme der Bevölkerung bedingt; eben¬
sowenig die Fruchtbarkeit des Bodens. Denn wir finden das unfruchtbare
sächsische Erzgebirge ebenso im Wachsthum begriffen wie die unfruchtbare Niede¬
rung in der Umgegend von Berlin. Das Ausschlaggebende wird vielmehr
allenthalben der vorherrschende Beruf gewisser Gegenden sein. Die vorwiegend
ackerbauenden Distrikte haben ihre Bevölkerung an die vorwiegend industriellen
Bezirke abgegeben. Der Vergleich eitler in das Detail gehenden Bernfskarte
mit der unsrigen würde jedenfalls vollständige Uebereinstimmung zwischen In¬
dustrie und Zunahme, zwischen Landwirthschaft und Abnahme konstatiren.
(Hasse). Die Karte zeigt Zunahme von 568 auf 1000 im genannten Zeitraum
für den Landkreis Essen und von 76« ans 1000 im Kreise Bochum! Ein Blick
auf eine Tabelle, welche das Wachsthum unserer Städte darstellt, zeigt ein
wasserkopfartiges Anschwellen, das die größten Bedenken wach rufen muß.
In deu 30 Jahren von 1845 bis 1875 ist z. B. gewachsen Berlin von 409,000
auf 068,000; Hamburg von 149,000 auf 264,000; Breslau von 112,000 auf
240,000; Köln von 90,000 auf 134,000; Leipzig von 55,000 auf 126,000
Einwohner. Und so ähnlich bei anderen Städten. Uebervölkerung und ungleiche
Verkeilung der Bevölkerung sind entschieden vorhanden und sind Grund und
Beförderungsmittel der sozialistischen Umtriebe.

Unter solchen Umständen mag es erlaubt sein wieder einmal die Frage
auszuwerfen, ob es uicht räthlich für Deutschland sei als Abzugskanäle über¬
seeische Pflanzstätten anzulegen? Es ist uns recht wohl bekannt, wie fehr man
in deu leitenden Kreisen Berlins gegen jede Art von Kolonisation und Erwerbung
überseeischen Besitzes eingenommen ist; noch frisch ist in unserm Gedächtniß,
daß 1871 die etwaige Erwerbung einer französischen Kolonie als Kompensation
für die Kriegskosten vielfach vom deutscher Seite empfohlen, von dem Fürsten
Bismark aber verworfen wurde. Trotzdem mag bei der Nothlage des Vater¬
lands in gegenwärtiger Zeit die Angelegenheit noch einmal zur Prüfung vor¬
gelegt werden. Vor mehr als zehn Jahren schon hat Ernst Friedel*) den
richtigen Anschauungen über das Kolonisationswesen mit Bezug auf Deutsch-



Atlas von Andres und Peschel, Tafel 20 — ein lehrreiches Blatt zur Beurtheilung der
Freizügigkeit.
*) Die Gründung Preußisch-deutscher Kolonien im indischen und großen Ozean-
Berlin, 1367. "
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/51>, abgerufen am 22.07.2024.