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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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über die etwaige Schuld an der Entstehung des Unglücks herumstreite, noch
auch mit Versuchen zur Anwendung kleiner Hausmittel, sondern ich schreite
sofort zu der Ausnahmemaßregel der Herbeirufung der Feuerwehr; daß deren
Wasserstrahlen kein Heilmittel gegen die Möglichkeit künftiger Brände sind,
das braucht man nicht erst in langen Reden beweisen zu wollen. Auch der
Wahlaufruf vom 46. Juni beruht auf der seltsamen Unterstellung, daß das
jetzt gewünschte Gesetz die soziale Krankheit heilen solle. Die bloße Mög¬
lichkeit selbst der baldigsten Wiederkehr der entsetzlichsten Vorgänge mußte
der vorige Reichstag sich vergegenwärtigen. Freilich läßt sich nicht sagen, die
That vom 2. Juni wäre nach Annahme des Gesetzes unbedingt unterblieben;
aber unstreitig hat für die Zwischenzeit die Deckung gefehlt, ein Versehen, welches
im Felde Moltke nicht begangen hätte. Daß nun der unglückliche Zufall die
ungläubige Reichstagsmehrheit so furchtbar Lügen strafte, lastet unter allen
Umständen schwer auf ihr.

Gewiß fühlten viele derselben das Bedürfniß nach der Gelegenheit, sich
bereiter zu zeigen. Man schien es nach dem 2. Juni für undenkbar halten zu
müssen, daß noch irgend ein antisozialistischer Abgeordneter Ausnahmemaßregeln
verwerfen könnte. Und dennoch drängt der Wahlaufruf vom 16. Juni die
Vermuthung auf, daß sogar Bennigsen und Genossen bei derselben Meinung
verbleiben werden.

Es mag sein, daß die fünf Abgeordneten, welche in der "Rat. Ztg." vom
6. d. M. ihre Bereitwilligkeit, jetzt einer Vorlage wie der neulichen zuzustimmen,
kundgaben, damit zunächst nur einen schwachen Versuch haben machen wollen,
die Auflösung des Reichstags abzuwenden, thatsächlich aber haben sie damit
nur den ersten Schritt gethan zu jener Enthüllung, welche offenbar einer jener
Fünf oder ein gesinnnngsverwandter Abgeordneter in der national-liberalen
hessischen "M. Ztg." vom 12. d. M. gab. Hiernach hat in der Partei eine
Minderheit von 20 bis 30 Stimmen bestanden. Diese würden zwar nicht
ausgereicht haben, der Vorlage im Reichstage die Mehrheit zu verschaffen,
aber dennoch suchte man in der Partei z-u verhindern, daß diese Herren
ihrer Ansicht gemäß stimmten. Bennigsen nahm "eine gewisse vermit¬
telnde Stellung" ein und wußte zu beruhigen dnrch den Hinweis auf
eine etwaige Bereitwilligkeit im Herbst. So kam zwischen der Richtung
einerseits Laster's und des Vorstandes, andererseits Gneist's mit der Minder¬
heit das Kompromiß zu Stande, wonach Bennigsen im Reichstag in jenem
Sinne reden, die 20 -- 30 aber ebenfalls mit Nein stimmen sollten. Darauf
wurden diese bei der 2. Lesung durch den nicht vorgesehenen Antrag Beseler-
Gneist "in eine eigenthümliche Lage" versetzt. Das Resultat war, daß nur
zwei Abgeordnete den Muth hatten, sür den Antrag zu stimmen, 6 das Ans-


über die etwaige Schuld an der Entstehung des Unglücks herumstreite, noch
auch mit Versuchen zur Anwendung kleiner Hausmittel, sondern ich schreite
sofort zu der Ausnahmemaßregel der Herbeirufung der Feuerwehr; daß deren
Wasserstrahlen kein Heilmittel gegen die Möglichkeit künftiger Brände sind,
das braucht man nicht erst in langen Reden beweisen zu wollen. Auch der
Wahlaufruf vom 46. Juni beruht auf der seltsamen Unterstellung, daß das
jetzt gewünschte Gesetz die soziale Krankheit heilen solle. Die bloße Mög¬
lichkeit selbst der baldigsten Wiederkehr der entsetzlichsten Vorgänge mußte
der vorige Reichstag sich vergegenwärtigen. Freilich läßt sich nicht sagen, die
That vom 2. Juni wäre nach Annahme des Gesetzes unbedingt unterblieben;
aber unstreitig hat für die Zwischenzeit die Deckung gefehlt, ein Versehen, welches
im Felde Moltke nicht begangen hätte. Daß nun der unglückliche Zufall die
ungläubige Reichstagsmehrheit so furchtbar Lügen strafte, lastet unter allen
Umständen schwer auf ihr.

Gewiß fühlten viele derselben das Bedürfniß nach der Gelegenheit, sich
bereiter zu zeigen. Man schien es nach dem 2. Juni für undenkbar halten zu
müssen, daß noch irgend ein antisozialistischer Abgeordneter Ausnahmemaßregeln
verwerfen könnte. Und dennoch drängt der Wahlaufruf vom 16. Juni die
Vermuthung auf, daß sogar Bennigsen und Genossen bei derselben Meinung
verbleiben werden.

Es mag sein, daß die fünf Abgeordneten, welche in der „Rat. Ztg." vom
6. d. M. ihre Bereitwilligkeit, jetzt einer Vorlage wie der neulichen zuzustimmen,
kundgaben, damit zunächst nur einen schwachen Versuch haben machen wollen,
die Auflösung des Reichstags abzuwenden, thatsächlich aber haben sie damit
nur den ersten Schritt gethan zu jener Enthüllung, welche offenbar einer jener
Fünf oder ein gesinnnngsverwandter Abgeordneter in der national-liberalen
hessischen „M. Ztg." vom 12. d. M. gab. Hiernach hat in der Partei eine
Minderheit von 20 bis 30 Stimmen bestanden. Diese würden zwar nicht
ausgereicht haben, der Vorlage im Reichstage die Mehrheit zu verschaffen,
aber dennoch suchte man in der Partei z-u verhindern, daß diese Herren
ihrer Ansicht gemäß stimmten. Bennigsen nahm „eine gewisse vermit¬
telnde Stellung" ein und wußte zu beruhigen dnrch den Hinweis auf
eine etwaige Bereitwilligkeit im Herbst. So kam zwischen der Richtung
einerseits Laster's und des Vorstandes, andererseits Gneist's mit der Minder¬
heit das Kompromiß zu Stande, wonach Bennigsen im Reichstag in jenem
Sinne reden, die 20 — 30 aber ebenfalls mit Nein stimmen sollten. Darauf
wurden diese bei der 2. Lesung durch den nicht vorgesehenen Antrag Beseler-
Gneist „in eine eigenthümliche Lage" versetzt. Das Resultat war, daß nur
zwei Abgeordnete den Muth hatten, sür den Antrag zu stimmen, 6 das Ans-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/46>, abgerufen am 22.07.2024.