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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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ptomatische Erscheinungen die höchste Beachtung finden. Zum Frohlocken und
Jubeln darüber, daß auf einen mehr als achtzigjähriger Greis, dessen Güte
und Milde jeden persönlichen Haß entwaffnen, zweimal hintereinander ein heim¬
tückischer Mordanfall gemacht wurde und das eine Mal mit nur zu traurigem
Erfolge, gehört eine Rohheit und Ruchlosigkeit der Gesinnung, die man ohne
Weiteres selbst verhärteten Verbrechen nicht unterschieben darf, und doch fanden
sich unter Majestätsbeleidigern in ihrer Art ganz reputirliche Leute, die viel¬
leicht jedem Wurme im Staube ihres Weges ausweichen. Was sie zu diesem
Vergehe" trieb, war genau derselbe Kitzel der Eitelkeit und des Größenwahns,
welcher Hotel und Nobiling beherrschte; sie grollten dem Kaiser nicht persönlich,
aber, sie wollten dem Gefühle gänzlicher "Wurstigkeit" Ausdruck geben, das sie
gegenüber der bestehenden, in ihrem höchsten Repräsentanten getroffenen Ordnung
hegen; sie haben sich diesen Gedankengang natürlich nicht klar gemacht, sondern
es liegt ihnen vollkommen im Blute, mit einem gemeinen Schimpfworte da
zu reagiren, wo die heiligsten und theuersten Gefühle der "reaktionären Masse"
mächtig aufwallen.

Diese Reihe von Thatsachen und ihre enge Verknüpfung uuter einander
beweist für jeden vorurtheilslosen Beobachter so viel, daß die moralisch zer¬
rüttenden und zersetzenden Wirkungen der sozialdemokratischen Agitation in den
untern Volksschichten epidemisch um sich greifen. Nicht alle oder auch nur die
meisten Arbeiter, welche ihre Stimme:? an kommunistische Kandidaten zu geben,
kommunistische Versammlungen zu besuchen und kommunistische Zeitungen zu
lesen Pflegen, sind von diesem sittlichen Schaden angefressen; wäre dem so,
dann wäre es fiir die Rettung vielleicht schon zu spät. Es ist vielmehr nur
erst eine noch kleine Minderheit, aber sie ist unabsehbar über das ganze Reich
Zerstreut und wirkt als Sauerteig nicht nur unter den Arbeitern, sondern auch
in allen übrigen Stünden der Gesellschaft. Und die Thatsache kann man sich
much gegenüber der großen Masse der sozialdemokratischen Anhängerschaft nicht
verhehlen, daß sie zu tief schon in Lug und Trug verstrickt ist, um noch ein
reines Gefühl für Recht und Unrecht zu haben. Die erschütternden Ereignisse
der letzten Monate sind wesentlich spurlos an ihr vorübergegangen; sie glaubt
"ach wie vor an die goldnen Berge der Demagogen und blickt mit Mißtrauen
auf die gebildeten Klassen, welche ihr der banausische Haß ihrer Verführer als
die Träger aller Verworfenheit schildert. Dafür legt der Ausfall der Wahlen,
beredtes Zeugniß ab. Die Wahlerfvlge der Sozialdemokratie sind zwar keines¬
wegs so glänzend, wie ihre Blätter rühmen; sie hat gegen 1877 nicht nur
fünfzig-, sondern, soweit jetzt schon eine Schätzung möglich ist, mindestens
hunderttausend Stimmen verloren, ein Verlust, der um so mehr in's Gewicht
fällt, als die allgemeine Wahlbetheilignng mindestens um zehn Prozent gegen


ptomatische Erscheinungen die höchste Beachtung finden. Zum Frohlocken und
Jubeln darüber, daß auf einen mehr als achtzigjähriger Greis, dessen Güte
und Milde jeden persönlichen Haß entwaffnen, zweimal hintereinander ein heim¬
tückischer Mordanfall gemacht wurde und das eine Mal mit nur zu traurigem
Erfolge, gehört eine Rohheit und Ruchlosigkeit der Gesinnung, die man ohne
Weiteres selbst verhärteten Verbrechen nicht unterschieben darf, und doch fanden
sich unter Majestätsbeleidigern in ihrer Art ganz reputirliche Leute, die viel¬
leicht jedem Wurme im Staube ihres Weges ausweichen. Was sie zu diesem
Vergehe» trieb, war genau derselbe Kitzel der Eitelkeit und des Größenwahns,
welcher Hotel und Nobiling beherrschte; sie grollten dem Kaiser nicht persönlich,
aber, sie wollten dem Gefühle gänzlicher „Wurstigkeit" Ausdruck geben, das sie
gegenüber der bestehenden, in ihrem höchsten Repräsentanten getroffenen Ordnung
hegen; sie haben sich diesen Gedankengang natürlich nicht klar gemacht, sondern
es liegt ihnen vollkommen im Blute, mit einem gemeinen Schimpfworte da
zu reagiren, wo die heiligsten und theuersten Gefühle der „reaktionären Masse"
mächtig aufwallen.

Diese Reihe von Thatsachen und ihre enge Verknüpfung uuter einander
beweist für jeden vorurtheilslosen Beobachter so viel, daß die moralisch zer¬
rüttenden und zersetzenden Wirkungen der sozialdemokratischen Agitation in den
untern Volksschichten epidemisch um sich greifen. Nicht alle oder auch nur die
meisten Arbeiter, welche ihre Stimme:? an kommunistische Kandidaten zu geben,
kommunistische Versammlungen zu besuchen und kommunistische Zeitungen zu
lesen Pflegen, sind von diesem sittlichen Schaden angefressen; wäre dem so,
dann wäre es fiir die Rettung vielleicht schon zu spät. Es ist vielmehr nur
erst eine noch kleine Minderheit, aber sie ist unabsehbar über das ganze Reich
Zerstreut und wirkt als Sauerteig nicht nur unter den Arbeitern, sondern auch
in allen übrigen Stünden der Gesellschaft. Und die Thatsache kann man sich
much gegenüber der großen Masse der sozialdemokratischen Anhängerschaft nicht
verhehlen, daß sie zu tief schon in Lug und Trug verstrickt ist, um noch ein
reines Gefühl für Recht und Unrecht zu haben. Die erschütternden Ereignisse
der letzten Monate sind wesentlich spurlos an ihr vorübergegangen; sie glaubt
«ach wie vor an die goldnen Berge der Demagogen und blickt mit Mißtrauen
auf die gebildeten Klassen, welche ihr der banausische Haß ihrer Verführer als
die Träger aller Verworfenheit schildert. Dafür legt der Ausfall der Wahlen,
beredtes Zeugniß ab. Die Wahlerfvlge der Sozialdemokratie sind zwar keines¬
wegs so glänzend, wie ihre Blätter rühmen; sie hat gegen 1877 nicht nur
fünfzig-, sondern, soweit jetzt schon eine Schätzung möglich ist, mindestens
hunderttausend Stimmen verloren, ein Verlust, der um so mehr in's Gewicht
fällt, als die allgemeine Wahlbetheilignng mindestens um zehn Prozent gegen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/443>, abgerufen am 22.07.2024.