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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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Nach unendlichen Mühseligkeiten und Kämpfen mit kriegerischen Berg¬
völkern erreichte Hcinnibal in den ersten Septembertagen die Paßhöhe, und nach
9 noch schwereren Tagen, welche beispiellose Anstrengungen von den Truppen
forderten, stand er am Fuße des Gebirges in Italien. Das Ziel war erreicht,
doch mit schmerzlichen Opfern. Von den 59,000 alten Soldaten, welche den
Marsch angetreten hatten, war mehr als die Hälfte ein Opfer der Gefechte,
Flußübergänge und Anstrengungen geworden. 6000 Reiter, doch zum Theil
wohl nicht mehr beritten, und 20,000 Mann zu Fuß, nämlich 12,000 Libyer
und 8000 Spanier, bildeten seine ganze Macht. Der große Gedanke aber,
Italien von Norden her, von Gallien aus anzugreifen, war jetzt zur That ge¬
worden.

Und nun erlitten die römischen Heere die beiden Niederlagen am Ticinus
und an der Trevia. Hannibal zog durch die Moräste des Arilus südwärts,
und in dem Engpaß am Trastmenischen See ging das stolze Heer des Konsuls
Flaminius blutig zu Grunde.

Rom war auf's Aeußerste bedroht; binnen drei Tagen zeigten sich die
numidischen Reiter kaum .10 Meilen von der Stadt; kein Heer stand zwischen ihr
und Hannibal. Aber der Senat bewahrte seine Haltung. Er setzte die Stadt
in Vertheidigungszustand, bewaffnete die ausgediente Mannschaft mit den in
den Tempeln aufgehängten Trophäen und erneute das alte Amt der Diktatur.
Es war nicht möglich, in den Formen des Gesetzes den Diktator durch einen
der Konsuln ernennen zu lassen; denu Flaminius war in der Schlacht gefallen,
und zwischen Servilins und Rom stand der Feind. Daher wählte das Volk
einen Prodiktator, den Quintus Fabius Maximus. Dieser hob zwei neue
Legionen aus und zog die beiden des Konsuls Servilins ebenfalls heran, diese
aber nur, um die bei Ostici liegenden Schiffe zu bemannen, in See zu
stechen und zur Verstärkung nach Spanien abzugehn: ein Zeichen noch ganz
ungebrochenen Selbstvertrauens. Und doch war man schon gezwungen, eine
Volksklasse zum Dienste aufzuheben, welche in guter alter Zeit als unberechtigt
zum ehrenvollen Waffendienste galt: die Libertinen, d. h. die von Freigelassenen
abstammenden Bürger. Indeß wählte man zunächst nur solche, welche Familien¬
väter waren und somit Gewähr für vaterländische Gesinnung gaben.

Die Sorge, Hannibal werde sich unmittelbar gegen Rom wenden, war
unbegründet. Die zusammengeschmolzenen Schaaren seiner iberischen und liby¬
schen Veteranen, die unzuverlässigen Massen seiner gallischen Söldner reichten
zu einem solchen Unternehmen um so weniger aus, als er kein Belagerungs¬
material mit sich führte. Seine Hoffnung, in den keltischen Stämmen Nord-
italien's nicht nur ein vorzügliches Material an Mannschaft, sondern in ihren
Sitzen auch eine sichere Operationsbasts zu gewinnen, hatte sich nicht bewährt.


Nach unendlichen Mühseligkeiten und Kämpfen mit kriegerischen Berg¬
völkern erreichte Hcinnibal in den ersten Septembertagen die Paßhöhe, und nach
9 noch schwereren Tagen, welche beispiellose Anstrengungen von den Truppen
forderten, stand er am Fuße des Gebirges in Italien. Das Ziel war erreicht,
doch mit schmerzlichen Opfern. Von den 59,000 alten Soldaten, welche den
Marsch angetreten hatten, war mehr als die Hälfte ein Opfer der Gefechte,
Flußübergänge und Anstrengungen geworden. 6000 Reiter, doch zum Theil
wohl nicht mehr beritten, und 20,000 Mann zu Fuß, nämlich 12,000 Libyer
und 8000 Spanier, bildeten seine ganze Macht. Der große Gedanke aber,
Italien von Norden her, von Gallien aus anzugreifen, war jetzt zur That ge¬
worden.

Und nun erlitten die römischen Heere die beiden Niederlagen am Ticinus
und an der Trevia. Hannibal zog durch die Moräste des Arilus südwärts,
und in dem Engpaß am Trastmenischen See ging das stolze Heer des Konsuls
Flaminius blutig zu Grunde.

Rom war auf's Aeußerste bedroht; binnen drei Tagen zeigten sich die
numidischen Reiter kaum .10 Meilen von der Stadt; kein Heer stand zwischen ihr
und Hannibal. Aber der Senat bewahrte seine Haltung. Er setzte die Stadt
in Vertheidigungszustand, bewaffnete die ausgediente Mannschaft mit den in
den Tempeln aufgehängten Trophäen und erneute das alte Amt der Diktatur.
Es war nicht möglich, in den Formen des Gesetzes den Diktator durch einen
der Konsuln ernennen zu lassen; denu Flaminius war in der Schlacht gefallen,
und zwischen Servilins und Rom stand der Feind. Daher wählte das Volk
einen Prodiktator, den Quintus Fabius Maximus. Dieser hob zwei neue
Legionen aus und zog die beiden des Konsuls Servilins ebenfalls heran, diese
aber nur, um die bei Ostici liegenden Schiffe zu bemannen, in See zu
stechen und zur Verstärkung nach Spanien abzugehn: ein Zeichen noch ganz
ungebrochenen Selbstvertrauens. Und doch war man schon gezwungen, eine
Volksklasse zum Dienste aufzuheben, welche in guter alter Zeit als unberechtigt
zum ehrenvollen Waffendienste galt: die Libertinen, d. h. die von Freigelassenen
abstammenden Bürger. Indeß wählte man zunächst nur solche, welche Familien¬
väter waren und somit Gewähr für vaterländische Gesinnung gaben.

Die Sorge, Hannibal werde sich unmittelbar gegen Rom wenden, war
unbegründet. Die zusammengeschmolzenen Schaaren seiner iberischen und liby¬
schen Veteranen, die unzuverlässigen Massen seiner gallischen Söldner reichten
zu einem solchen Unternehmen um so weniger aus, als er kein Belagerungs¬
material mit sich führte. Seine Hoffnung, in den keltischen Stämmen Nord-
italien's nicht nur ein vorzügliches Material an Mannschaft, sondern in ihren
Sitzen auch eine sichere Operationsbasts zu gewinnen, hatte sich nicht bewährt.


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[0314] Nach unendlichen Mühseligkeiten und Kämpfen mit kriegerischen Berg¬ völkern erreichte Hcinnibal in den ersten Septembertagen die Paßhöhe, und nach 9 noch schwereren Tagen, welche beispiellose Anstrengungen von den Truppen forderten, stand er am Fuße des Gebirges in Italien. Das Ziel war erreicht, doch mit schmerzlichen Opfern. Von den 59,000 alten Soldaten, welche den Marsch angetreten hatten, war mehr als die Hälfte ein Opfer der Gefechte, Flußübergänge und Anstrengungen geworden. 6000 Reiter, doch zum Theil wohl nicht mehr beritten, und 20,000 Mann zu Fuß, nämlich 12,000 Libyer und 8000 Spanier, bildeten seine ganze Macht. Der große Gedanke aber, Italien von Norden her, von Gallien aus anzugreifen, war jetzt zur That ge¬ worden. Und nun erlitten die römischen Heere die beiden Niederlagen am Ticinus und an der Trevia. Hannibal zog durch die Moräste des Arilus südwärts, und in dem Engpaß am Trastmenischen See ging das stolze Heer des Konsuls Flaminius blutig zu Grunde. Rom war auf's Aeußerste bedroht; binnen drei Tagen zeigten sich die numidischen Reiter kaum .10 Meilen von der Stadt; kein Heer stand zwischen ihr und Hannibal. Aber der Senat bewahrte seine Haltung. Er setzte die Stadt in Vertheidigungszustand, bewaffnete die ausgediente Mannschaft mit den in den Tempeln aufgehängten Trophäen und erneute das alte Amt der Diktatur. Es war nicht möglich, in den Formen des Gesetzes den Diktator durch einen der Konsuln ernennen zu lassen; denu Flaminius war in der Schlacht gefallen, und zwischen Servilins und Rom stand der Feind. Daher wählte das Volk einen Prodiktator, den Quintus Fabius Maximus. Dieser hob zwei neue Legionen aus und zog die beiden des Konsuls Servilins ebenfalls heran, diese aber nur, um die bei Ostici liegenden Schiffe zu bemannen, in See zu stechen und zur Verstärkung nach Spanien abzugehn: ein Zeichen noch ganz ungebrochenen Selbstvertrauens. Und doch war man schon gezwungen, eine Volksklasse zum Dienste aufzuheben, welche in guter alter Zeit als unberechtigt zum ehrenvollen Waffendienste galt: die Libertinen, d. h. die von Freigelassenen abstammenden Bürger. Indeß wählte man zunächst nur solche, welche Familien¬ väter waren und somit Gewähr für vaterländische Gesinnung gaben. Die Sorge, Hannibal werde sich unmittelbar gegen Rom wenden, war unbegründet. Die zusammengeschmolzenen Schaaren seiner iberischen und liby¬ schen Veteranen, die unzuverlässigen Massen seiner gallischen Söldner reichten zu einem solchen Unternehmen um so weniger aus, als er kein Belagerungs¬ material mit sich führte. Seine Hoffnung, in den keltischen Stämmen Nord- italien's nicht nur ein vorzügliches Material an Mannschaft, sondern in ihren Sitzen auch eine sichere Operationsbasts zu gewinnen, hatte sich nicht bewährt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/314>, abgerufen am 02.10.2024.