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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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Theorien für die Gestaltung des menschlichen Wirthschaftslebens, für den Prozeß
der Gütererzeugung, des Güterumsatzes und der Gütervertheilnng zur Folge
haben würden. Er abstrahirt zu diesem Zweck aus der sozialistischen Literatur
deren oberstes Prinzip, die Verwandlung des Privateigenthums an Produktiv¬
kapitalien in gesellschaftliches Eigenthum, und aus diesem obersten Prinzip
zieht er mit großer Klarheit nach allen Seiten hin die Konsequenzen, gleichviel
ob die sozialistischen Parteiführer selbst dieselben gezogen haben oder auch nur
ahnen. Diese Untersuchungen sind um so dankenswerther, je weniger die
sozialdemokratische Literatur über die positiven Ziele der Bewegung klaren
Aufschluß giebt. Selbst das wissenschaftliche Hauptwerk der deutschen Sozial¬
demokratie, das "Kapital" von Karl Marx, beschränkt sich auf eine dialektisch
gewandte, aber auf falschen Definitionen der nationalökonomischen Grundbe¬
griffe beruhende Kritik der Produktionsverhältnisse in der heutigen Gesellschafts¬
ordnung. Die große Zahl der kleineren sozialistischen Agitations- und Hetz¬
schriften vollends gibt nnr selten einmal eine Andeutung über die Ausführung
der positiven Seite ihres Parteiprogrammes, und in diesen Angaben widersprechen
sich die einzelnen Schriften zum großen Theil noch untereinander.

An sich müßte daher das Erscheinen der Schüffle'schen Schrift auch den
Gegnern der sozialistischen Anschauungen erwünscht sein, da sie eine wesentliche
Lücke unserer Kenntniß ausfüllt über das, was der Sozialismus grundsätzlich
wollen muß. Aber nicht ohne guten Grund hat Bebel die Schäffle'sche
Broschüre von der Tribüne des Reichstags herab empfohlen, und nicht ohne
Grund hat die vortrefflich organisirte sozialistische Kolportage sich ihrer be¬
mächtigt. Leider muß konstatirt werden, daß Schäffle in dieser Schrift entgegen
den früher von ihm vertretenen Ansichten einen dem Sozialismus prinzipiell
geneigten Standpunkt eingenommen hat. Die große Mehrzahl der Leser hat
sich mit derartigen Untersuchungen wenig beschäftigt und ist daher nicht im
Stande, diese mit der äußersten Sorgfalt und Geschicklichkeit abgewogenen und
durchgefeilten Auseinandersetzungen mit der nöthigen Kritik aufzunehmen. Sie
wirken um so verführerischer, grade weil sie in ihrer objektiven Form des rein
subjektiven und oft gehässigen Tons entbehren, durch welchen die sozialistischen
Schriften nicht zu ihrer Partei gehörende gebildete Leser in der Regel von
vornherein gegen sich einnehmen.

Es scheint daher angemessen, vor einem größeren Leserkreise zunächst die¬
jenige Frage mit steter Berücksichtigung des Schäffle'schen Buches kritisch zu
untersuchen, welche deu Ausgangspunkt bei einer leidenschaftslosen Betrachtung
der sozialistischen Theorien bilden muß -- wir meinen die Frage nach dem
Recht beim Uebergang in den sozialistischen Staat.

Bekanntlich gipfeln die sozialistischen Theorien in dem Satze, daß alle


Theorien für die Gestaltung des menschlichen Wirthschaftslebens, für den Prozeß
der Gütererzeugung, des Güterumsatzes und der Gütervertheilnng zur Folge
haben würden. Er abstrahirt zu diesem Zweck aus der sozialistischen Literatur
deren oberstes Prinzip, die Verwandlung des Privateigenthums an Produktiv¬
kapitalien in gesellschaftliches Eigenthum, und aus diesem obersten Prinzip
zieht er mit großer Klarheit nach allen Seiten hin die Konsequenzen, gleichviel
ob die sozialistischen Parteiführer selbst dieselben gezogen haben oder auch nur
ahnen. Diese Untersuchungen sind um so dankenswerther, je weniger die
sozialdemokratische Literatur über die positiven Ziele der Bewegung klaren
Aufschluß giebt. Selbst das wissenschaftliche Hauptwerk der deutschen Sozial¬
demokratie, das „Kapital" von Karl Marx, beschränkt sich auf eine dialektisch
gewandte, aber auf falschen Definitionen der nationalökonomischen Grundbe¬
griffe beruhende Kritik der Produktionsverhältnisse in der heutigen Gesellschafts¬
ordnung. Die große Zahl der kleineren sozialistischen Agitations- und Hetz¬
schriften vollends gibt nnr selten einmal eine Andeutung über die Ausführung
der positiven Seite ihres Parteiprogrammes, und in diesen Angaben widersprechen
sich die einzelnen Schriften zum großen Theil noch untereinander.

An sich müßte daher das Erscheinen der Schüffle'schen Schrift auch den
Gegnern der sozialistischen Anschauungen erwünscht sein, da sie eine wesentliche
Lücke unserer Kenntniß ausfüllt über das, was der Sozialismus grundsätzlich
wollen muß. Aber nicht ohne guten Grund hat Bebel die Schäffle'sche
Broschüre von der Tribüne des Reichstags herab empfohlen, und nicht ohne
Grund hat die vortrefflich organisirte sozialistische Kolportage sich ihrer be¬
mächtigt. Leider muß konstatirt werden, daß Schäffle in dieser Schrift entgegen
den früher von ihm vertretenen Ansichten einen dem Sozialismus prinzipiell
geneigten Standpunkt eingenommen hat. Die große Mehrzahl der Leser hat
sich mit derartigen Untersuchungen wenig beschäftigt und ist daher nicht im
Stande, diese mit der äußersten Sorgfalt und Geschicklichkeit abgewogenen und
durchgefeilten Auseinandersetzungen mit der nöthigen Kritik aufzunehmen. Sie
wirken um so verführerischer, grade weil sie in ihrer objektiven Form des rein
subjektiven und oft gehässigen Tons entbehren, durch welchen die sozialistischen
Schriften nicht zu ihrer Partei gehörende gebildete Leser in der Regel von
vornherein gegen sich einnehmen.

Es scheint daher angemessen, vor einem größeren Leserkreise zunächst die¬
jenige Frage mit steter Berücksichtigung des Schäffle'schen Buches kritisch zu
untersuchen, welche deu Ausgangspunkt bei einer leidenschaftslosen Betrachtung
der sozialistischen Theorien bilden muß — wir meinen die Frage nach dem
Recht beim Uebergang in den sozialistischen Staat.

Bekanntlich gipfeln die sozialistischen Theorien in dem Satze, daß alle


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/144>, abgerufen am 22.07.2024.