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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

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die ihn charakterisirt, mußte dem geistlichen Amt, wenn sein Träger der
neuen Bewegung folgte, einen gesteigerten Einfluß schaffen. Und indem der
Pietismus eine religiöse Aristokratie erzeugte, die von der gesellschaftlichen un¬
abhängig war, trat er für eine Ausgleichung der Stände auf religiöser Basis
ein, welche die dem Pfarrhaus bisher gezogenen Schranken beseitigen mußte.
Auch uoch in eiuer andern Hinsicht wirkte der Pietismus befreiend; da er das
individuelle Seelenleben nud deu Wechsel der Stimmungen und Vorgänge in
demselben in den Mittelpunkt stellte, bereitete er die Strömungen vor, die das
achtzehnte Jahrhundert beherrschten, die Periode der sich selbst genießenden
Subjektivität. Doch müssen wir allerdings die Einschränkung macheu, daß die
eben gezeichnete Richtung dem Pietismus weder immer noch aller Orten eigen
war, daß er vielmehr oft die negative Seite, die Weltflucht und die Bekämpfung
anch erlaubter Bedürfnisse, hervortreten ließ. Da erschien denn das pietistische
Pfarrhaus vor allem als die Stätte herber und strenger Zucht, in der, wie
Meuß treffend bemerkt, sich auch das Zeitalter des Korporalstocks spiegelt.
Der würtenbergische Pastor Flattich, der seiner Braut mit Bedacht eine Ohr¬
feige giebt, um sie zu prüfen, ob sie sich in sein aufbrausendes Temperament
werde schicken können; und der thüringische Pfarrer Heim, der Vater des be¬
rühmten Arztes, welcher sämmtliche Kinder bei Verlust eiues Gegenstandes bis
zum Wiederfinden desselben abstraft, sind originelle Belege für die Autorität,
die der pietistische Pfarrherr in Anspruch nahm. Bei solcher gesetzlichen Lebens-
ordnung Pflegte die ästhetische Genußfähigkeit gering zu sein; und es war wohl
nicht blos Mangel an Zeit, der Spener davon abhielt, den Garten, welcher
hinter seinem Hanse in Berlin sich befand, öfter zu besuchen. Nur zwei bis
dreimal und zwar immer blos auf einige Minuten, hat er während seiner vier¬
zehnjährigen Wirksamkeit in Berlin in ihm verweilt.

Die Abwendung von der Metaphysik des Dogmas, bie starke Betonung
des praktischen Elements, die Kultur des individuellen Seelenlebens verknüpft
den Pietismus mit den Hnmanitätsbestrebnngen und der Aufklärung des acht¬
zehnten Jahrhunderts. Die Reduktion der evangelischen Heilswahrheiten ans
die Abstraktionen einer allgemeinen Religiosität unterscheidet beide. Im Pfarr¬
haus spiegelt sich auch dieser Umschwung. Der Pfarrer wird in erster Linie
Volkslehrer, der auch durch Pflege rationeller Landwirthschaft den Beleg für
die Nutzbarkeit des Predigtamts liefert. Nicht durch spezifisch kirchliche, sondern
durch allgemein humane Leistungen muß das Pfarramt sein Existenzrecht er¬
härten. Von diesem Gesichtspunkt aus wird auch Reiz und Poesie des Pfarr¬
hauses gewürdigt. Zumal das Pfarrhaus auf dem Lande erhält eine neue
Beleuchtung. Es erscheint als idyllische Stätte ungekünstelter, freier und doch


die ihn charakterisirt, mußte dem geistlichen Amt, wenn sein Träger der
neuen Bewegung folgte, einen gesteigerten Einfluß schaffen. Und indem der
Pietismus eine religiöse Aristokratie erzeugte, die von der gesellschaftlichen un¬
abhängig war, trat er für eine Ausgleichung der Stände auf religiöser Basis
ein, welche die dem Pfarrhaus bisher gezogenen Schranken beseitigen mußte.
Auch uoch in eiuer andern Hinsicht wirkte der Pietismus befreiend; da er das
individuelle Seelenleben nud deu Wechsel der Stimmungen und Vorgänge in
demselben in den Mittelpunkt stellte, bereitete er die Strömungen vor, die das
achtzehnte Jahrhundert beherrschten, die Periode der sich selbst genießenden
Subjektivität. Doch müssen wir allerdings die Einschränkung macheu, daß die
eben gezeichnete Richtung dem Pietismus weder immer noch aller Orten eigen
war, daß er vielmehr oft die negative Seite, die Weltflucht und die Bekämpfung
anch erlaubter Bedürfnisse, hervortreten ließ. Da erschien denn das pietistische
Pfarrhaus vor allem als die Stätte herber und strenger Zucht, in der, wie
Meuß treffend bemerkt, sich auch das Zeitalter des Korporalstocks spiegelt.
Der würtenbergische Pastor Flattich, der seiner Braut mit Bedacht eine Ohr¬
feige giebt, um sie zu prüfen, ob sie sich in sein aufbrausendes Temperament
werde schicken können; und der thüringische Pfarrer Heim, der Vater des be¬
rühmten Arztes, welcher sämmtliche Kinder bei Verlust eiues Gegenstandes bis
zum Wiederfinden desselben abstraft, sind originelle Belege für die Autorität,
die der pietistische Pfarrherr in Anspruch nahm. Bei solcher gesetzlichen Lebens-
ordnung Pflegte die ästhetische Genußfähigkeit gering zu sein; und es war wohl
nicht blos Mangel an Zeit, der Spener davon abhielt, den Garten, welcher
hinter seinem Hanse in Berlin sich befand, öfter zu besuchen. Nur zwei bis
dreimal und zwar immer blos auf einige Minuten, hat er während seiner vier¬
zehnjährigen Wirksamkeit in Berlin in ihm verweilt.

Die Abwendung von der Metaphysik des Dogmas, bie starke Betonung
des praktischen Elements, die Kultur des individuellen Seelenlebens verknüpft
den Pietismus mit den Hnmanitätsbestrebnngen und der Aufklärung des acht¬
zehnten Jahrhunderts. Die Reduktion der evangelischen Heilswahrheiten ans
die Abstraktionen einer allgemeinen Religiosität unterscheidet beide. Im Pfarr¬
haus spiegelt sich auch dieser Umschwung. Der Pfarrer wird in erster Linie
Volkslehrer, der auch durch Pflege rationeller Landwirthschaft den Beleg für
die Nutzbarkeit des Predigtamts liefert. Nicht durch spezifisch kirchliche, sondern
durch allgemein humane Leistungen muß das Pfarramt sein Existenzrecht er¬
härten. Von diesem Gesichtspunkt aus wird auch Reiz und Poesie des Pfarr¬
hauses gewürdigt. Zumal das Pfarrhaus auf dem Lande erhält eine neue
Beleuchtung. Es erscheint als idyllische Stätte ungekünstelter, freier und doch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/13>, abgerufen am 22.07.2024.