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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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sie ihr 1812 geborenes Kind und ihre Schwester vorübergehend mit nach
Karlsruhe. Sie ist also nie "eine ehrsame Bürgersfrau von Karlsruhe" ge¬
wesen und Welcker kaun ihre Bekanntschaft nicht in Karlsruhe, muß diese in
Freiburg gemacht haben. Bis zum Auftreten Kaspar Hauser's hat sie nie
irgend Etwas beim Tode des Erbprinzen auffällig gefunden. Erst als das
Gerücht von der Prinzenschaft Hanser's auftauchte, erzählte sie ihren Ange¬
hörigen: "Sie habe die Nacht vom 15. zum 16. Oktober sehr fest geschlafen.
Als sie aufgewacht, sei Alles unruhig, um den schwer erkrankten Prinzen im
Zimmer beschäftigt gewesen. Darüber sei sie in große Aufregung gerathen
und nun habe man sie aus dem Zimmer entfernt" -- was man in jeder
bürgerlichen Familie auch gethan haben würde. "Am Mittag des 16. sei sie
zu ihrem Kinde in die Stadt gegangen, wie gewöhnlich. Ins Schloß
zurückgekehrt, habe sie Alles in größter Bestürzung gefunden und er¬
fahren, der Prinz liege im Sterben. Sie sei mit Mühe bis ins Kranken¬
zimmer vorgedrungen: hier habe sie jedoch die Wiege des Kindes derartig
von Aerzten, Herren und Damen vom Hofe umringt gefunden,
daß es ihr unmöglich gewesen sei, das Kind zu sehen." Diese Erzühlnng --
die übrigens auch vierzig Jahre nach dem Vorfall gegeben wurde -- weicht
in allen wesentlichen Punkten von der Welcker'schen Version ab und erscheint
so natürlich wie möglich. Die Amme hatte nnr ein physisches Verhältniß zum
Erbprinzen. Mit dem Auftreten der erheblichen Gehirnstörungen des Prinzen
waren diese Beziehungen suspendirt. Die Amme hatte zudem ein lebhaft auf¬
fahrendes Wesen. Ganz natürlich, daß man am 16. in den letzten bösen Stunden
des Eudes sie nicht dicht beim Prinzen leiden mochte. Im Uebrigen wird das
Tableau, welches das Sterbezimmer nach der Urkunde über die Nothtaufe geboten
haben muß: ein großes Zimmer voller bestürzter, dicht um den Sterbenden sich
drängender, bei völlig offenen Thüren hin- und hereilender Menschen selbst
aus dieser Ammengeschichte vollständig bestätigt.

Das sind Herrn Kolb's "außergewöhnliche Umstünde", welche den Iden¬
titätsbeweis der Urkunde über die Nothtaufe aufheben sollen. Erinnert sich
der Leser jemals kläglichere Verdächtigungen kläglicher vertheidigt gesehen zu
haben? Das Allerkläglichste kommt aber noch, nämlich eine wissentliche Ver¬
drehung einer Aeußerung, welche die Großherzogin Stephanie, die Mutter des
am 16. Oktober 1812 verstorbenen Erbprinzen einmal über Kaspar Hauser
gethan hat. Auch das Mittel wissentlicher Verdrehung ist Herrn Kolb nicht
zu schlecht für seine Zwecke. Herr Kolb sagt in der Frankfurter Zeitung vom
17. Juni 1875: "Sie, die Nuchstbetheiligte, der wohl das beste Urtheil darüber
zustand, in wiefern eine Entführung resp. Unterschiebung möglich war, sie
glaubte, daß Kaspar Hauser ihr Sohn sein könnte, wie dies der Wortlaut


sie ihr 1812 geborenes Kind und ihre Schwester vorübergehend mit nach
Karlsruhe. Sie ist also nie „eine ehrsame Bürgersfrau von Karlsruhe" ge¬
wesen und Welcker kaun ihre Bekanntschaft nicht in Karlsruhe, muß diese in
Freiburg gemacht haben. Bis zum Auftreten Kaspar Hauser's hat sie nie
irgend Etwas beim Tode des Erbprinzen auffällig gefunden. Erst als das
Gerücht von der Prinzenschaft Hanser's auftauchte, erzählte sie ihren Ange¬
hörigen: „Sie habe die Nacht vom 15. zum 16. Oktober sehr fest geschlafen.
Als sie aufgewacht, sei Alles unruhig, um den schwer erkrankten Prinzen im
Zimmer beschäftigt gewesen. Darüber sei sie in große Aufregung gerathen
und nun habe man sie aus dem Zimmer entfernt" — was man in jeder
bürgerlichen Familie auch gethan haben würde. „Am Mittag des 16. sei sie
zu ihrem Kinde in die Stadt gegangen, wie gewöhnlich. Ins Schloß
zurückgekehrt, habe sie Alles in größter Bestürzung gefunden und er¬
fahren, der Prinz liege im Sterben. Sie sei mit Mühe bis ins Kranken¬
zimmer vorgedrungen: hier habe sie jedoch die Wiege des Kindes derartig
von Aerzten, Herren und Damen vom Hofe umringt gefunden,
daß es ihr unmöglich gewesen sei, das Kind zu sehen." Diese Erzühlnng —
die übrigens auch vierzig Jahre nach dem Vorfall gegeben wurde — weicht
in allen wesentlichen Punkten von der Welcker'schen Version ab und erscheint
so natürlich wie möglich. Die Amme hatte nnr ein physisches Verhältniß zum
Erbprinzen. Mit dem Auftreten der erheblichen Gehirnstörungen des Prinzen
waren diese Beziehungen suspendirt. Die Amme hatte zudem ein lebhaft auf¬
fahrendes Wesen. Ganz natürlich, daß man am 16. in den letzten bösen Stunden
des Eudes sie nicht dicht beim Prinzen leiden mochte. Im Uebrigen wird das
Tableau, welches das Sterbezimmer nach der Urkunde über die Nothtaufe geboten
haben muß: ein großes Zimmer voller bestürzter, dicht um den Sterbenden sich
drängender, bei völlig offenen Thüren hin- und hereilender Menschen selbst
aus dieser Ammengeschichte vollständig bestätigt.

Das sind Herrn Kolb's „außergewöhnliche Umstünde", welche den Iden¬
titätsbeweis der Urkunde über die Nothtaufe aufheben sollen. Erinnert sich
der Leser jemals kläglichere Verdächtigungen kläglicher vertheidigt gesehen zu
haben? Das Allerkläglichste kommt aber noch, nämlich eine wissentliche Ver¬
drehung einer Aeußerung, welche die Großherzogin Stephanie, die Mutter des
am 16. Oktober 1812 verstorbenen Erbprinzen einmal über Kaspar Hauser
gethan hat. Auch das Mittel wissentlicher Verdrehung ist Herrn Kolb nicht
zu schlecht für seine Zwecke. Herr Kolb sagt in der Frankfurter Zeitung vom
17. Juni 1875: „Sie, die Nuchstbetheiligte, der wohl das beste Urtheil darüber
zustand, in wiefern eine Entführung resp. Unterschiebung möglich war, sie
glaubte, daß Kaspar Hauser ihr Sohn sein könnte, wie dies der Wortlaut


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/476>, abgerufen am 27.07.2024.