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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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habe seine Söhne und ihn selbst vergiftet, um der badischen Pfalz willen!*)
Den damaligen Kronprinzen, späteren König Ludwig I. von Baiern, bezeichnet
Karl direkt als seinen Todfeind. Ein grundloser Verdacht, wiederholen wir.

Aber für Feuerbach mußte es auch ganz gleichgültig sein, wie man in
Baden zur Zeit der Entstehung des Memoires im Jahr 1832 dachte. Kaspar
Hauser sollte ja der im Jahr 1812 verstorbene badische Erbprinz sein. Die
Absichten der angeblichen Thäterin, der Reichsgräfin Hochberg, den legitimen
"Mannsstamm" zu verdrängen, "um einem blos aus morganatischer Ehe ent¬
sprossenen Nebenzweige Platz zu machen" konnte Feuerbach also auch nur be¬
urtheilen von dem Staudpunkte aus, den die Genealogie des badischen Herr¬
scherhauses der Reichsgräfin im Jahre 1812 bot. Feuerbach scheut sich nicht,
auch in dieser Hinsicht tendenziöse Unwahrheiten zu sagen. Er schreibt: "wer
bei dem Aussterben des Mannesstammes in der Linie des Großherzogs Karl
das nächste, das unmittelbarste Interesse hatte, war unstreitig die Mutter der
Grafen Hochberg mit ihren Söhnen." Nun waren aber 1812, falls Gro߬
herzog Karl ohne männliche Descendenz verstorben wäre, immer noch Mark¬
graf Friedrich (56 I.) unvermählt, und falls auch dieser kinderlos gestorben
wäre, Markgraf Ludwig (48 I.) präsumtive Thronerben. Diese und nicht
die Gräfin Hochberg, hätten also das nächste Interesse an der Beseitigung ihrer
Neffen gehabt.

Ueberaus wunderlich vollends ist der von Feuerbach entdeckte, "besondere
Umstand", daß die Hauser'schen "Geburtsnotizen" mit den "verhängnißvollen
Epochen der Geburt und des Todes der beide" (!) Prinzen und Söhne Gro߬
herzogs Karl von Baden" übereinstimmen. Kaspar Hanser ist nach den "Ge¬
burtsnotizen", die er mit sich nach Nürnberg brachte, geboren am 39. April
1812, dem Unbekannten "gelegt" (übergeben) worden am 7. Oktober 1812.
Der Erbprinz, der Kaspar selbst sein soll, ist geboren am 29. September, ge¬
storben am 16. Oktober 1812, also neun Tage nachdem Kaspar dem Unbe¬
kannten schon "gelegt" war. Feuerbach erklärt das für "eine höchst unbedeu¬
tende Differenz". Der zweite badische Prinz ist geboren nicht am 30. April
wie Kaspar, sondern am 1. Mai und nicht 1812, sondern 1816. Auch "eine
höchst unbedeutende Differenz" -- nur vier Jahre und ein Tag. "Höchstwahr¬
scheinlich ein katholischer Klosterbruder" -- in jener romantischen Zeit eine fast
unentbehrliche Figur in allen Wundermären -- hat nach Feuerbach ein mensch¬
liches Rühren gefühlt, "den Unglücklichen nicht ohne allen Ausweis seiner Ge¬
burt in die Welt zu stoßen", und demgemäß dafür gesorgt, daß ein Geburts¬
schein fertig wurde, hinter dem die Wahrheit für den Scharfsinn Feuerbach's



') Barnhagen, Denkwürdigkeiten, Bd. IX. S. 336, 388.

habe seine Söhne und ihn selbst vergiftet, um der badischen Pfalz willen!*)
Den damaligen Kronprinzen, späteren König Ludwig I. von Baiern, bezeichnet
Karl direkt als seinen Todfeind. Ein grundloser Verdacht, wiederholen wir.

Aber für Feuerbach mußte es auch ganz gleichgültig sein, wie man in
Baden zur Zeit der Entstehung des Memoires im Jahr 1832 dachte. Kaspar
Hauser sollte ja der im Jahr 1812 verstorbene badische Erbprinz sein. Die
Absichten der angeblichen Thäterin, der Reichsgräfin Hochberg, den legitimen
„Mannsstamm" zu verdrängen, „um einem blos aus morganatischer Ehe ent¬
sprossenen Nebenzweige Platz zu machen" konnte Feuerbach also auch nur be¬
urtheilen von dem Staudpunkte aus, den die Genealogie des badischen Herr¬
scherhauses der Reichsgräfin im Jahre 1812 bot. Feuerbach scheut sich nicht,
auch in dieser Hinsicht tendenziöse Unwahrheiten zu sagen. Er schreibt: „wer
bei dem Aussterben des Mannesstammes in der Linie des Großherzogs Karl
das nächste, das unmittelbarste Interesse hatte, war unstreitig die Mutter der
Grafen Hochberg mit ihren Söhnen." Nun waren aber 1812, falls Gro߬
herzog Karl ohne männliche Descendenz verstorben wäre, immer noch Mark¬
graf Friedrich (56 I.) unvermählt, und falls auch dieser kinderlos gestorben
wäre, Markgraf Ludwig (48 I.) präsumtive Thronerben. Diese und nicht
die Gräfin Hochberg, hätten also das nächste Interesse an der Beseitigung ihrer
Neffen gehabt.

Ueberaus wunderlich vollends ist der von Feuerbach entdeckte, „besondere
Umstand", daß die Hauser'schen „Geburtsnotizen" mit den „verhängnißvollen
Epochen der Geburt und des Todes der beide» (!) Prinzen und Söhne Gro߬
herzogs Karl von Baden" übereinstimmen. Kaspar Hanser ist nach den „Ge¬
burtsnotizen", die er mit sich nach Nürnberg brachte, geboren am 39. April
1812, dem Unbekannten „gelegt" (übergeben) worden am 7. Oktober 1812.
Der Erbprinz, der Kaspar selbst sein soll, ist geboren am 29. September, ge¬
storben am 16. Oktober 1812, also neun Tage nachdem Kaspar dem Unbe¬
kannten schon „gelegt" war. Feuerbach erklärt das für „eine höchst unbedeu¬
tende Differenz". Der zweite badische Prinz ist geboren nicht am 30. April
wie Kaspar, sondern am 1. Mai und nicht 1812, sondern 1816. Auch „eine
höchst unbedeutende Differenz" — nur vier Jahre und ein Tag. „Höchstwahr¬
scheinlich ein katholischer Klosterbruder" — in jener romantischen Zeit eine fast
unentbehrliche Figur in allen Wundermären — hat nach Feuerbach ein mensch¬
liches Rühren gefühlt, „den Unglücklichen nicht ohne allen Ausweis seiner Ge¬
burt in die Welt zu stoßen", und demgemäß dafür gesorgt, daß ein Geburts¬
schein fertig wurde, hinter dem die Wahrheit für den Scharfsinn Feuerbach's



') Barnhagen, Denkwürdigkeiten, Bd. IX. S. 336, 388.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/436>, abgerufen am 01.09.2024.