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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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ist ferner der von Feuerbach als glaubhaft und wahr verkündete Mythus von
der Gefangenhaltung Kaspar Hauser's in seiner Kindheit, während seines Knaben¬
alters; ferner die Behauptung, daß der Findling in einem "Kerker" gefangen
gehalten worden sei, in dem er nicht habe aufrecht stehen, nicht ausgestreckt
habe liegen können; daß er ohne die Fähigkeit aufrecht zu gehen, ohne Kenntniß
der menschlichen Sprache, ohne jede Berührung mit Menschen und mit den
Dingen der Außenwelt geblieben, bis er in Nürnberg ausgesetzt worden. Dem
Allem steht schon das psychologische Grundgesetz entgegen, daß Hauser ohne
jede Entwickelung seiner seelischen Funktionen keine Erinnerung an die Ver¬
gangenheit hätte bewahren, diese Erinnerungen nicht in Worten hätte äußern
können; ferner aber die Thatsache, daß er sogar lesen konnte, daß er stunden¬
lang gegangen war und stundenlang stehen mußte, als er in Nürnberg eintraf.
Daß weiter der sog. "Mordanfall" auf Hauser 1829 und seine angebliche
"Ermordung" im Jahre 1833 (nach Feuerbach's Tod) durchaus keine Straf¬
thaten waren, ist schon früher berichtet worden.

Noch viel trauriger aber ist es nun um jenes geheime Memoire
Feuerbach's an die Königin Karoline von Baiern bestellt, welches,
wie früher gezeigt wurde, dem Mythus vom badischen Prinzenthum Kaspar
Hauser's die einzige halbwegs achtbare Basis verleihen sollte. Diese Staats-
schrift ist in derselben Zeit krankhaftester Geistes- und Körperstimmung entstanden,
wie das "Verbrechen an dem Seelenleben". Am 27. Januar 1832 hatte
Feuerbach diese für das große Publikum bestimmte Schrift der Königin Karoline
überreicht, im Februar 1832 folgte das Memoire. Im März desselben Jahres
schrieb er so wie oben an seinen eigenen Worten gezeigt wurde an seinen
Sohn Anselm über sein zunehmendes Siechthum, dessen "nicht undeutliche
Spuren mein Kaspar Hauser zeigt". Die Veranlassung zu diesem Memoire
ist aber eine so eigenthümliche, daß wir zunächst hierbei eingehender verweilen
müssen, denn sie erweckt das ungünstigste und begründetste Vorurtheil gegen
den guten Glauben des Verfassers. In diesem Memoire beschuldigte Feuerbach
das regierende Hans Baden, den Thron durch ein Verbrechen gegen Kaspar
Hauser erschlichen zu haben. Kein Wort dieses Verdachtes hat der Gerichts¬
präsident Feuerbach jemals in den Akten erwähnt. Hätte der pflichttreue,
hochangesehene Beamte einen so schweren Verdacht sür sich behalten dürfen,
wenn er ihn ernstlich hegte? Gewiß nicht! Von wem aber ging ferner die
Veranlassung zu dem geheimen Me'noire ans? Is theil cui xrocksst, sagen wir
Kriminalisten. Feuerbach selbst deutet den Urheber an in einem Briefe vom
Februar 1832 an den Hof- und Kabinetsprediger von Schmidt in München.
Hier sagt er, daß die Anregung von München ausgegangen, daß er sich An¬
fangs gesträubt und erst nach feierlichen Zusagen und Versprechungen "auf


ist ferner der von Feuerbach als glaubhaft und wahr verkündete Mythus von
der Gefangenhaltung Kaspar Hauser's in seiner Kindheit, während seines Knaben¬
alters; ferner die Behauptung, daß der Findling in einem „Kerker" gefangen
gehalten worden sei, in dem er nicht habe aufrecht stehen, nicht ausgestreckt
habe liegen können; daß er ohne die Fähigkeit aufrecht zu gehen, ohne Kenntniß
der menschlichen Sprache, ohne jede Berührung mit Menschen und mit den
Dingen der Außenwelt geblieben, bis er in Nürnberg ausgesetzt worden. Dem
Allem steht schon das psychologische Grundgesetz entgegen, daß Hauser ohne
jede Entwickelung seiner seelischen Funktionen keine Erinnerung an die Ver¬
gangenheit hätte bewahren, diese Erinnerungen nicht in Worten hätte äußern
können; ferner aber die Thatsache, daß er sogar lesen konnte, daß er stunden¬
lang gegangen war und stundenlang stehen mußte, als er in Nürnberg eintraf.
Daß weiter der sog. „Mordanfall" auf Hauser 1829 und seine angebliche
„Ermordung" im Jahre 1833 (nach Feuerbach's Tod) durchaus keine Straf¬
thaten waren, ist schon früher berichtet worden.

Noch viel trauriger aber ist es nun um jenes geheime Memoire
Feuerbach's an die Königin Karoline von Baiern bestellt, welches,
wie früher gezeigt wurde, dem Mythus vom badischen Prinzenthum Kaspar
Hauser's die einzige halbwegs achtbare Basis verleihen sollte. Diese Staats-
schrift ist in derselben Zeit krankhaftester Geistes- und Körperstimmung entstanden,
wie das „Verbrechen an dem Seelenleben". Am 27. Januar 1832 hatte
Feuerbach diese für das große Publikum bestimmte Schrift der Königin Karoline
überreicht, im Februar 1832 folgte das Memoire. Im März desselben Jahres
schrieb er so wie oben an seinen eigenen Worten gezeigt wurde an seinen
Sohn Anselm über sein zunehmendes Siechthum, dessen „nicht undeutliche
Spuren mein Kaspar Hauser zeigt". Die Veranlassung zu diesem Memoire
ist aber eine so eigenthümliche, daß wir zunächst hierbei eingehender verweilen
müssen, denn sie erweckt das ungünstigste und begründetste Vorurtheil gegen
den guten Glauben des Verfassers. In diesem Memoire beschuldigte Feuerbach
das regierende Hans Baden, den Thron durch ein Verbrechen gegen Kaspar
Hauser erschlichen zu haben. Kein Wort dieses Verdachtes hat der Gerichts¬
präsident Feuerbach jemals in den Akten erwähnt. Hätte der pflichttreue,
hochangesehene Beamte einen so schweren Verdacht sür sich behalten dürfen,
wenn er ihn ernstlich hegte? Gewiß nicht! Von wem aber ging ferner die
Veranlassung zu dem geheimen Me'noire ans? Is theil cui xrocksst, sagen wir
Kriminalisten. Feuerbach selbst deutet den Urheber an in einem Briefe vom
Februar 1832 an den Hof- und Kabinetsprediger von Schmidt in München.
Hier sagt er, daß die Anregung von München ausgegangen, daß er sich An¬
fangs gesträubt und erst nach feierlichen Zusagen und Versprechungen „auf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/431>, abgerufen am 01.09.2024.