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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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ich Ursache zu glauben, daß der Barbar, in dessen Gewalt Hauser gewesen,
ihm durch fürchterliche Drohungen über gewisse Punkte eine Lektion
eingeprägt hat, welche hauptsächlich bezweckt, der Nachforschung
nach dem Ort und den Urheber der That (d. h. der Aussetzung) den
erforderlichen Leitfaden zu verstecken." Diese Meinung Feuerbach's
läßt sich am meisten vereinigen mit der Lösung des Kaspar-Hauser-Räthsels
die unten gegeben werden soll, während schon die "Aussetzung" des "Prinzen"
Kaspar Hauser in Nürnberg einfacher Unsinn wäre, vorausgesetzt, daß er, wie
die Vertreter seines Prinzenthums annehmen, bis dahin in verborgener Ge¬
fangenschaft gehalten worden sei.

Im auffallendsten Gegensatze mit diesem maßvollen gescheuten Urtheil steht
schon die berufene Schrift Feuerbach's "Kaspar Hauser, Beispiel eines
Verbrechens am Seelenleben", die Ende Januar 1832 erschien. Diese
Schrift, so wenig würdig ihres Verfassers sie uns heute scheint, hatte dem ge¬
brochenen Mann doch drei Monate angestrengtester Arbeit gekostet. Er selbst
schreibt, daß er von "höchsten geistigen Anstrengungen des Gelehrten, den Mühen,
Arbeiten und Verdrießlichkeiten des Geschäftsmannes, den Sorgen und Be¬
kümmernissen des Familienvaters" niedergedrückt sei. Am 29. März 1832, bei
Uebersendung der "paar Bogen" seiner Schrift an seinen Sohn Anselm, klagt
er diesem, daß er seit zwei Monaten an Zimmer und Bett gefesselt sei, von
fortwährenden Ohnmachten heimgesucht werde, die Aerzte jeden Augenblick einen
Nervenschlag befürchteten, und daß ihn die gänzliche Abnahme seines Gedächt¬
nisses, die Unfähigkeit zu abstraktem Denken und Reflektiren entsetzlich peinige.
Der Zustand sei erst noch im Werden gewesen, als er die Schrift verfaßt habe.
Es kann nicht unsre Aufgabe sein, auf die Schwächen und Widersprüche, die kritiklose
Auffassung dieser Schrift, welche mit dem Akteuiuhalt, mit den Beobachtungen
der Zeitgenossen (einschließlich des Verfassers selbst) und mit der allgemeinen
Menschenerfahrung in phantastischem Widerspruch steht, näher einzugehen. Wen
dieser Nachweis interessirt, der mag Mittelstädt's treffliche Schrift nachlesen.*)
Wir begnügen uns, die Hauptergebnisse dieser scharfsinnigen Untersuchung
mitzutheilen, da die Epigonen Feuerbach's natürlich auch alle Trugschlüsse, die
ihr Gewährsmann in dieser Schrift angehäuft hat, gründlich ausgebeutet und
beliebig erweitert und vergrößert haben.

Der Hauptirrthum dieser Schrift ist nun zunächst die Annahme, welcher
sich der Kriminalist und Richter Feuerbach in seinen gesunden Tagen und
seinem amtlichen Wirken auf das Entschiedenste widersetzte: daß an Kaspar
Hauser ein Verbrechen verübt worden sei. Unwahr und durch nichts erwiesen



*) S. 31--47.

ich Ursache zu glauben, daß der Barbar, in dessen Gewalt Hauser gewesen,
ihm durch fürchterliche Drohungen über gewisse Punkte eine Lektion
eingeprägt hat, welche hauptsächlich bezweckt, der Nachforschung
nach dem Ort und den Urheber der That (d. h. der Aussetzung) den
erforderlichen Leitfaden zu verstecken." Diese Meinung Feuerbach's
läßt sich am meisten vereinigen mit der Lösung des Kaspar-Hauser-Räthsels
die unten gegeben werden soll, während schon die „Aussetzung" des „Prinzen"
Kaspar Hauser in Nürnberg einfacher Unsinn wäre, vorausgesetzt, daß er, wie
die Vertreter seines Prinzenthums annehmen, bis dahin in verborgener Ge¬
fangenschaft gehalten worden sei.

Im auffallendsten Gegensatze mit diesem maßvollen gescheuten Urtheil steht
schon die berufene Schrift Feuerbach's „Kaspar Hauser, Beispiel eines
Verbrechens am Seelenleben", die Ende Januar 1832 erschien. Diese
Schrift, so wenig würdig ihres Verfassers sie uns heute scheint, hatte dem ge¬
brochenen Mann doch drei Monate angestrengtester Arbeit gekostet. Er selbst
schreibt, daß er von „höchsten geistigen Anstrengungen des Gelehrten, den Mühen,
Arbeiten und Verdrießlichkeiten des Geschäftsmannes, den Sorgen und Be¬
kümmernissen des Familienvaters" niedergedrückt sei. Am 29. März 1832, bei
Uebersendung der „paar Bogen" seiner Schrift an seinen Sohn Anselm, klagt
er diesem, daß er seit zwei Monaten an Zimmer und Bett gefesselt sei, von
fortwährenden Ohnmachten heimgesucht werde, die Aerzte jeden Augenblick einen
Nervenschlag befürchteten, und daß ihn die gänzliche Abnahme seines Gedächt¬
nisses, die Unfähigkeit zu abstraktem Denken und Reflektiren entsetzlich peinige.
Der Zustand sei erst noch im Werden gewesen, als er die Schrift verfaßt habe.
Es kann nicht unsre Aufgabe sein, auf die Schwächen und Widersprüche, die kritiklose
Auffassung dieser Schrift, welche mit dem Akteuiuhalt, mit den Beobachtungen
der Zeitgenossen (einschließlich des Verfassers selbst) und mit der allgemeinen
Menschenerfahrung in phantastischem Widerspruch steht, näher einzugehen. Wen
dieser Nachweis interessirt, der mag Mittelstädt's treffliche Schrift nachlesen.*)
Wir begnügen uns, die Hauptergebnisse dieser scharfsinnigen Untersuchung
mitzutheilen, da die Epigonen Feuerbach's natürlich auch alle Trugschlüsse, die
ihr Gewährsmann in dieser Schrift angehäuft hat, gründlich ausgebeutet und
beliebig erweitert und vergrößert haben.

Der Hauptirrthum dieser Schrift ist nun zunächst die Annahme, welcher
sich der Kriminalist und Richter Feuerbach in seinen gesunden Tagen und
seinem amtlichen Wirken auf das Entschiedenste widersetzte: daß an Kaspar
Hauser ein Verbrechen verübt worden sei. Unwahr und durch nichts erwiesen



*) S. 31—47.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/430>, abgerufen am 01.09.2024.