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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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die logische Durchbildung zu unterschätzen, obwohl die griechische hierin schwerlich
zurücksteht, das aber wird kein Kundiger bestreikn, daß da, wo es auf die
Einführung in den Geist des Alterthums durch die Lektüre ankommt, die grie¬
chische Literatur einen ganz unvergleichlichen Vorrang behauptet. Die gesammte
römische Literatur beruht ja nicht nnr ans Nachahmung der griechischen und
hat sich in Folge davon in keineswegs naturgemäßer Weise entwickelt, indem sie
alle Dichtungsgattungen so ziemlich gleichzeitig auszubilden begann, sondern
sie gehört auch größtentheils einer Zeit an, in der das politische und soziale Leben
der Römer längst den Höhepunkt überschritten hatte, eiuer Zeit tiefen Verfalls
und sie trägt deshalb die Spuren des Krankheitszustandes ihrer Nation viel¬
fach nur zu deutlich an sich. Wäre das römische Volk literarisch ebenso be¬
gabt gewesen, wie das griechische, so hätte sich seine Literatur unter den mäch¬
tigen Eindrücken des Heldenkampfes gegen die Punier entwickeln müssen, wie
die griechische ihren Höhepunkt erreichte unter den Nachwirkungen der Perser¬
kriege. Statt dessen gehören ihre Klassiker dein 1. Jahrhundert v. Ch. an,
einer Zeit blutigen, erbitternder, entsittlichenden Parteikampfes und Bürger¬
krieges, in dem alle politischen Tugenden der Römer sich aufzulösen begannen.
Es scheint uns aber keineswegs gleichgültig, ob unsere Jugend eingeführt wird
in die Verhältnisse einer verfallenden oder in die einer blühenden Zeit, ob der
Schüler in den Autoren, die er liest, zugleich bedeutende und der Bewunderung
würdige Menschen kennen lernt oder das Gegentheil,' es scheint uns vielmehr
von höchstem Werthe, daß ihm eben das Alterthum aus seiner Sonnenhöhe,
ganz besonders zur Anschauung gebracht werde, so wenig selbstverständlich ihm der
Einblick in den Zusammenbruch der alten Ordnungen erspart werden kann und
soll. Von diesem Gesichtspunkte ans ist gewiß die Lektüre des Herodot, des
Thukydides und Xenophon, des Platon, Demosthenes und Lysias, die alle auf dem
Boden des klassischen Athen erwachsen sind, ethisch bildender als die der meisten
verwandten römischen Historiker und Redner, die, so hervorragende Erscheinungen
unter ihnen sind, doch einer sinkenden Zeit angehören. Und wie wenig von einer
Gleichstellung der römischen Dichter mit den griechischen die Rede sein kann,
wenn man etwa die Lyriker ausnimmt, weiß jeder, der beide kennt.

Wir wollen aus diesen Gründen nicht etwa eine Zurücksetzung des La¬
teinischen hinsichtlich der Stundenzahl im Verhältniß zum Griechischen, da für
jenes die schriftliche Uebung immerhin einen größeren Raum beanspruchen
wird, sondern nur eine Gleichstellung beider in der Stundenzahl, dergestalt,
daß der lateinische Unterricht, befreit von einem Theile der jetzt rein formalen
Exercitien gewidmeten Stunden, auf ein geringeres Maß derselben beschränkt
und der griechische um 1 oder 2 Stunden verstärkt wird, jeder für Je>> und Ib
etwa 7 Stunden, das Latein in Ha, 8, das Griechische 7 Stunden erhält.


die logische Durchbildung zu unterschätzen, obwohl die griechische hierin schwerlich
zurücksteht, das aber wird kein Kundiger bestreikn, daß da, wo es auf die
Einführung in den Geist des Alterthums durch die Lektüre ankommt, die grie¬
chische Literatur einen ganz unvergleichlichen Vorrang behauptet. Die gesammte
römische Literatur beruht ja nicht nnr ans Nachahmung der griechischen und
hat sich in Folge davon in keineswegs naturgemäßer Weise entwickelt, indem sie
alle Dichtungsgattungen so ziemlich gleichzeitig auszubilden begann, sondern
sie gehört auch größtentheils einer Zeit an, in der das politische und soziale Leben
der Römer längst den Höhepunkt überschritten hatte, eiuer Zeit tiefen Verfalls
und sie trägt deshalb die Spuren des Krankheitszustandes ihrer Nation viel¬
fach nur zu deutlich an sich. Wäre das römische Volk literarisch ebenso be¬
gabt gewesen, wie das griechische, so hätte sich seine Literatur unter den mäch¬
tigen Eindrücken des Heldenkampfes gegen die Punier entwickeln müssen, wie
die griechische ihren Höhepunkt erreichte unter den Nachwirkungen der Perser¬
kriege. Statt dessen gehören ihre Klassiker dein 1. Jahrhundert v. Ch. an,
einer Zeit blutigen, erbitternder, entsittlichenden Parteikampfes und Bürger¬
krieges, in dem alle politischen Tugenden der Römer sich aufzulösen begannen.
Es scheint uns aber keineswegs gleichgültig, ob unsere Jugend eingeführt wird
in die Verhältnisse einer verfallenden oder in die einer blühenden Zeit, ob der
Schüler in den Autoren, die er liest, zugleich bedeutende und der Bewunderung
würdige Menschen kennen lernt oder das Gegentheil,' es scheint uns vielmehr
von höchstem Werthe, daß ihm eben das Alterthum aus seiner Sonnenhöhe,
ganz besonders zur Anschauung gebracht werde, so wenig selbstverständlich ihm der
Einblick in den Zusammenbruch der alten Ordnungen erspart werden kann und
soll. Von diesem Gesichtspunkte ans ist gewiß die Lektüre des Herodot, des
Thukydides und Xenophon, des Platon, Demosthenes und Lysias, die alle auf dem
Boden des klassischen Athen erwachsen sind, ethisch bildender als die der meisten
verwandten römischen Historiker und Redner, die, so hervorragende Erscheinungen
unter ihnen sind, doch einer sinkenden Zeit angehören. Und wie wenig von einer
Gleichstellung der römischen Dichter mit den griechischen die Rede sein kann,
wenn man etwa die Lyriker ausnimmt, weiß jeder, der beide kennt.

Wir wollen aus diesen Gründen nicht etwa eine Zurücksetzung des La¬
teinischen hinsichtlich der Stundenzahl im Verhältniß zum Griechischen, da für
jenes die schriftliche Uebung immerhin einen größeren Raum beanspruchen
wird, sondern nur eine Gleichstellung beider in der Stundenzahl, dergestalt,
daß der lateinische Unterricht, befreit von einem Theile der jetzt rein formalen
Exercitien gewidmeten Stunden, auf ein geringeres Maß derselben beschränkt
und der griechische um 1 oder 2 Stunden verstärkt wird, jeder für Je>> und Ib
etwa 7 Stunden, das Latein in Ha, 8, das Griechische 7 Stunden erhält.


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[0410] die logische Durchbildung zu unterschätzen, obwohl die griechische hierin schwerlich zurücksteht, das aber wird kein Kundiger bestreikn, daß da, wo es auf die Einführung in den Geist des Alterthums durch die Lektüre ankommt, die grie¬ chische Literatur einen ganz unvergleichlichen Vorrang behauptet. Die gesammte römische Literatur beruht ja nicht nnr ans Nachahmung der griechischen und hat sich in Folge davon in keineswegs naturgemäßer Weise entwickelt, indem sie alle Dichtungsgattungen so ziemlich gleichzeitig auszubilden begann, sondern sie gehört auch größtentheils einer Zeit an, in der das politische und soziale Leben der Römer längst den Höhepunkt überschritten hatte, eiuer Zeit tiefen Verfalls und sie trägt deshalb die Spuren des Krankheitszustandes ihrer Nation viel¬ fach nur zu deutlich an sich. Wäre das römische Volk literarisch ebenso be¬ gabt gewesen, wie das griechische, so hätte sich seine Literatur unter den mäch¬ tigen Eindrücken des Heldenkampfes gegen die Punier entwickeln müssen, wie die griechische ihren Höhepunkt erreichte unter den Nachwirkungen der Perser¬ kriege. Statt dessen gehören ihre Klassiker dein 1. Jahrhundert v. Ch. an, einer Zeit blutigen, erbitternder, entsittlichenden Parteikampfes und Bürger¬ krieges, in dem alle politischen Tugenden der Römer sich aufzulösen begannen. Es scheint uns aber keineswegs gleichgültig, ob unsere Jugend eingeführt wird in die Verhältnisse einer verfallenden oder in die einer blühenden Zeit, ob der Schüler in den Autoren, die er liest, zugleich bedeutende und der Bewunderung würdige Menschen kennen lernt oder das Gegentheil,' es scheint uns vielmehr von höchstem Werthe, daß ihm eben das Alterthum aus seiner Sonnenhöhe, ganz besonders zur Anschauung gebracht werde, so wenig selbstverständlich ihm der Einblick in den Zusammenbruch der alten Ordnungen erspart werden kann und soll. Von diesem Gesichtspunkte ans ist gewiß die Lektüre des Herodot, des Thukydides und Xenophon, des Platon, Demosthenes und Lysias, die alle auf dem Boden des klassischen Athen erwachsen sind, ethisch bildender als die der meisten verwandten römischen Historiker und Redner, die, so hervorragende Erscheinungen unter ihnen sind, doch einer sinkenden Zeit angehören. Und wie wenig von einer Gleichstellung der römischen Dichter mit den griechischen die Rede sein kann, wenn man etwa die Lyriker ausnimmt, weiß jeder, der beide kennt. Wir wollen aus diesen Gründen nicht etwa eine Zurücksetzung des La¬ teinischen hinsichtlich der Stundenzahl im Verhältniß zum Griechischen, da für jenes die schriftliche Uebung immerhin einen größeren Raum beanspruchen wird, sondern nur eine Gleichstellung beider in der Stundenzahl, dergestalt, daß der lateinische Unterricht, befreit von einem Theile der jetzt rein formalen Exercitien gewidmeten Stunden, auf ein geringeres Maß derselben beschränkt und der griechische um 1 oder 2 Stunden verstärkt wird, jeder für Je>> und Ib etwa 7 Stunden, das Latein in Ha, 8, das Griechische 7 Stunden erhält.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/410>, abgerufen am 01.09.2024.