Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die wesentlich auf die Bildung des Verstandes zur Befriedigung sog. praktischer
Bedürfnisse hinarbeitet -- "Amerikcmisirung" nennt es Du Bois-Reymond --
und demnach eine Verkümmerung der Kräfte des Gemüths und der Phantasie,
die gewiß durch die Lektüre klassischer Autoren und die Betrachtung der Ver¬
gangenheit vielmehr geweckt werden als durch naturwissenschaftliches und mathe¬
matisches Studium und selbst durch den Betrieb moderner Sprachen, der doch
immer zum guten Theile praktische Zwecke verfolgt. Wir würden dann gewiß
noch vortreffliche Techniker und Mathematiker, vielleicht auch Mediziner aus
unseren Anstalten hervorgehen sehr, sicher aber kaum mehr hervorragende
Sprachforscher, Historiker und Künstler, und unsere europäische, speziell deutsche
Kultur würde damit eben das verlieren, wodurch sie bis heute der jungen
amerikanischen Zivilisation gegenüber ihre Ueberlegenheit behauptet hat.

Kann es somit keinem Zweifel unterliegen, daß in der That eine ernste
Gefahr in der Doppelheit unsrer Mittelschulen liegt, so wird die von Dn Bois-
Reymond und auch sonst schon von Anderen erhobene Forderung: Einheit der
Mittelschule schwerlich von vornherein als unberechtigt zurückgewiesen werden
können.

Die Ausführung freilich ist ebenso schwierig als das Bedürfniß groß, und
das allerdings glauben wir nicht, daß Dn Bois-Reymond in dem, was er
zur Realisirung seiner Forderung vorschlägt, überall das Richtige gefunden hat.

Da nirgends das Experimentiren gefährlicher ist, als auf dem Gebiete
des Schulwesens, so erscheint es geboten, sich bei den nothwendigen Umgestal¬
tungen den bestehenden Verhältnissen möglichst anzuschließen und mit grund¬
stürzenden Vorschlägen daheim zu bleiben. Dann also muß eine der beiden
Anstalten, das Gymnasium oder die Realschule I. Ordnung, so umgeformt
werden, daß sie als die einheitliche Mittelschule der Zukunft den unleugbar
gegen früher gewaltig veränderten Bedürfnissen genügt.

Wir gehen dabei von dem Grundsatze aus, daß die ununterbrochene Ein¬
wirkung der antiken Kulturelemente auf die Gegenwart unbedingt nothwendig
ist. Eine erhebliche Schwächung oder gar ein Aufhören derselben würde nicht
nur alle Tradition des höheren Unterrichts gewaltsam zerreißen, sondern uns
außerdem das Verständniß eines sehr großen Theiles unserer eignen mittel¬
alterlichen wie modernen Entwicklung unmöglich machen, also einen Bruch mit
der Vergangenheit involviren, wie er schlimmer gar nicht gedacht werden könnte,
und zugleich würden wir den Damm wegreißen, welcher unsre Kultur vor den
trüben Fluthen des reinen Militarismus schützt. An zweiter Stelle ist die
Bedeutung zu erwägen, welche das grammatische Studium der antiken Sprachen
für die logische Schulung der Jugend besitzt, eine Bedeutung, die schon deshalb
selbst vom Französischen -- vom Englischen ganz zu schweigen -- nicht ganz


die wesentlich auf die Bildung des Verstandes zur Befriedigung sog. praktischer
Bedürfnisse hinarbeitet — „Amerikcmisirung" nennt es Du Bois-Reymond —
und demnach eine Verkümmerung der Kräfte des Gemüths und der Phantasie,
die gewiß durch die Lektüre klassischer Autoren und die Betrachtung der Ver¬
gangenheit vielmehr geweckt werden als durch naturwissenschaftliches und mathe¬
matisches Studium und selbst durch den Betrieb moderner Sprachen, der doch
immer zum guten Theile praktische Zwecke verfolgt. Wir würden dann gewiß
noch vortreffliche Techniker und Mathematiker, vielleicht auch Mediziner aus
unseren Anstalten hervorgehen sehr, sicher aber kaum mehr hervorragende
Sprachforscher, Historiker und Künstler, und unsere europäische, speziell deutsche
Kultur würde damit eben das verlieren, wodurch sie bis heute der jungen
amerikanischen Zivilisation gegenüber ihre Ueberlegenheit behauptet hat.

Kann es somit keinem Zweifel unterliegen, daß in der That eine ernste
Gefahr in der Doppelheit unsrer Mittelschulen liegt, so wird die von Dn Bois-
Reymond und auch sonst schon von Anderen erhobene Forderung: Einheit der
Mittelschule schwerlich von vornherein als unberechtigt zurückgewiesen werden
können.

Die Ausführung freilich ist ebenso schwierig als das Bedürfniß groß, und
das allerdings glauben wir nicht, daß Dn Bois-Reymond in dem, was er
zur Realisirung seiner Forderung vorschlägt, überall das Richtige gefunden hat.

Da nirgends das Experimentiren gefährlicher ist, als auf dem Gebiete
des Schulwesens, so erscheint es geboten, sich bei den nothwendigen Umgestal¬
tungen den bestehenden Verhältnissen möglichst anzuschließen und mit grund¬
stürzenden Vorschlägen daheim zu bleiben. Dann also muß eine der beiden
Anstalten, das Gymnasium oder die Realschule I. Ordnung, so umgeformt
werden, daß sie als die einheitliche Mittelschule der Zukunft den unleugbar
gegen früher gewaltig veränderten Bedürfnissen genügt.

Wir gehen dabei von dem Grundsatze aus, daß die ununterbrochene Ein¬
wirkung der antiken Kulturelemente auf die Gegenwart unbedingt nothwendig
ist. Eine erhebliche Schwächung oder gar ein Aufhören derselben würde nicht
nur alle Tradition des höheren Unterrichts gewaltsam zerreißen, sondern uns
außerdem das Verständniß eines sehr großen Theiles unserer eignen mittel¬
alterlichen wie modernen Entwicklung unmöglich machen, also einen Bruch mit
der Vergangenheit involviren, wie er schlimmer gar nicht gedacht werden könnte,
und zugleich würden wir den Damm wegreißen, welcher unsre Kultur vor den
trüben Fluthen des reinen Militarismus schützt. An zweiter Stelle ist die
Bedeutung zu erwägen, welche das grammatische Studium der antiken Sprachen
für die logische Schulung der Jugend besitzt, eine Bedeutung, die schon deshalb
selbst vom Französischen — vom Englischen ganz zu schweigen — nicht ganz


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0407" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140228"/>
          <p xml:id="ID_1185" prev="#ID_1184"> die wesentlich auf die Bildung des Verstandes zur Befriedigung sog. praktischer<lb/>
Bedürfnisse hinarbeitet &#x2014; &#x201E;Amerikcmisirung" nennt es Du Bois-Reymond &#x2014;<lb/>
und demnach eine Verkümmerung der Kräfte des Gemüths und der Phantasie,<lb/>
die gewiß durch die Lektüre klassischer Autoren und die Betrachtung der Ver¬<lb/>
gangenheit vielmehr geweckt werden als durch naturwissenschaftliches und mathe¬<lb/>
matisches Studium und selbst durch den Betrieb moderner Sprachen, der doch<lb/>
immer zum guten Theile praktische Zwecke verfolgt. Wir würden dann gewiß<lb/>
noch vortreffliche Techniker und Mathematiker, vielleicht auch Mediziner aus<lb/>
unseren Anstalten hervorgehen sehr, sicher aber kaum mehr hervorragende<lb/>
Sprachforscher, Historiker und Künstler, und unsere europäische, speziell deutsche<lb/>
Kultur würde damit eben das verlieren, wodurch sie bis heute der jungen<lb/>
amerikanischen Zivilisation gegenüber ihre Ueberlegenheit behauptet hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1186"> Kann es somit keinem Zweifel unterliegen, daß in der That eine ernste<lb/>
Gefahr in der Doppelheit unsrer Mittelschulen liegt, so wird die von Dn Bois-<lb/>
Reymond und auch sonst schon von Anderen erhobene Forderung: Einheit der<lb/>
Mittelschule schwerlich von vornherein als unberechtigt zurückgewiesen werden<lb/>
können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1187"> Die Ausführung freilich ist ebenso schwierig als das Bedürfniß groß, und<lb/>
das allerdings glauben wir nicht, daß Dn Bois-Reymond in dem, was er<lb/>
zur Realisirung seiner Forderung vorschlägt, überall das Richtige gefunden hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1188"> Da nirgends das Experimentiren gefährlicher ist, als auf dem Gebiete<lb/>
des Schulwesens, so erscheint es geboten, sich bei den nothwendigen Umgestal¬<lb/>
tungen den bestehenden Verhältnissen möglichst anzuschließen und mit grund¬<lb/>
stürzenden Vorschlägen daheim zu bleiben. Dann also muß eine der beiden<lb/>
Anstalten, das Gymnasium oder die Realschule I. Ordnung, so umgeformt<lb/>
werden, daß sie als die einheitliche Mittelschule der Zukunft den unleugbar<lb/>
gegen früher gewaltig veränderten Bedürfnissen genügt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1189" next="#ID_1190"> Wir gehen dabei von dem Grundsatze aus, daß die ununterbrochene Ein¬<lb/>
wirkung der antiken Kulturelemente auf die Gegenwart unbedingt nothwendig<lb/>
ist. Eine erhebliche Schwächung oder gar ein Aufhören derselben würde nicht<lb/>
nur alle Tradition des höheren Unterrichts gewaltsam zerreißen, sondern uns<lb/>
außerdem das Verständniß eines sehr großen Theiles unserer eignen mittel¬<lb/>
alterlichen wie modernen Entwicklung unmöglich machen, also einen Bruch mit<lb/>
der Vergangenheit involviren, wie er schlimmer gar nicht gedacht werden könnte,<lb/>
und zugleich würden wir den Damm wegreißen, welcher unsre Kultur vor den<lb/>
trüben Fluthen des reinen Militarismus schützt. An zweiter Stelle ist die<lb/>
Bedeutung zu erwägen, welche das grammatische Studium der antiken Sprachen<lb/>
für die logische Schulung der Jugend besitzt, eine Bedeutung, die schon deshalb<lb/>
selbst vom Französischen &#x2014; vom Englischen ganz zu schweigen &#x2014; nicht ganz</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0407] die wesentlich auf die Bildung des Verstandes zur Befriedigung sog. praktischer Bedürfnisse hinarbeitet — „Amerikcmisirung" nennt es Du Bois-Reymond — und demnach eine Verkümmerung der Kräfte des Gemüths und der Phantasie, die gewiß durch die Lektüre klassischer Autoren und die Betrachtung der Ver¬ gangenheit vielmehr geweckt werden als durch naturwissenschaftliches und mathe¬ matisches Studium und selbst durch den Betrieb moderner Sprachen, der doch immer zum guten Theile praktische Zwecke verfolgt. Wir würden dann gewiß noch vortreffliche Techniker und Mathematiker, vielleicht auch Mediziner aus unseren Anstalten hervorgehen sehr, sicher aber kaum mehr hervorragende Sprachforscher, Historiker und Künstler, und unsere europäische, speziell deutsche Kultur würde damit eben das verlieren, wodurch sie bis heute der jungen amerikanischen Zivilisation gegenüber ihre Ueberlegenheit behauptet hat. Kann es somit keinem Zweifel unterliegen, daß in der That eine ernste Gefahr in der Doppelheit unsrer Mittelschulen liegt, so wird die von Dn Bois- Reymond und auch sonst schon von Anderen erhobene Forderung: Einheit der Mittelschule schwerlich von vornherein als unberechtigt zurückgewiesen werden können. Die Ausführung freilich ist ebenso schwierig als das Bedürfniß groß, und das allerdings glauben wir nicht, daß Dn Bois-Reymond in dem, was er zur Realisirung seiner Forderung vorschlägt, überall das Richtige gefunden hat. Da nirgends das Experimentiren gefährlicher ist, als auf dem Gebiete des Schulwesens, so erscheint es geboten, sich bei den nothwendigen Umgestal¬ tungen den bestehenden Verhältnissen möglichst anzuschließen und mit grund¬ stürzenden Vorschlägen daheim zu bleiben. Dann also muß eine der beiden Anstalten, das Gymnasium oder die Realschule I. Ordnung, so umgeformt werden, daß sie als die einheitliche Mittelschule der Zukunft den unleugbar gegen früher gewaltig veränderten Bedürfnissen genügt. Wir gehen dabei von dem Grundsatze aus, daß die ununterbrochene Ein¬ wirkung der antiken Kulturelemente auf die Gegenwart unbedingt nothwendig ist. Eine erhebliche Schwächung oder gar ein Aufhören derselben würde nicht nur alle Tradition des höheren Unterrichts gewaltsam zerreißen, sondern uns außerdem das Verständniß eines sehr großen Theiles unserer eignen mittel¬ alterlichen wie modernen Entwicklung unmöglich machen, also einen Bruch mit der Vergangenheit involviren, wie er schlimmer gar nicht gedacht werden könnte, und zugleich würden wir den Damm wegreißen, welcher unsre Kultur vor den trüben Fluthen des reinen Militarismus schützt. An zweiter Stelle ist die Bedeutung zu erwägen, welche das grammatische Studium der antiken Sprachen für die logische Schulung der Jugend besitzt, eine Bedeutung, die schon deshalb selbst vom Französischen — vom Englischen ganz zu schweigen — nicht ganz

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/407
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/407>, abgerufen am 29.12.2024.