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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Noch einmal, in ihrem äußersten Stadium, muß diese ohnehin schon hin¬
länglich seltsame Reichstagssessivn einen vollständigen Wechsel der Szenerie er¬
leben. Am Donnerstag stritt man sich eine Stunde lang, wie die dringendsten
Aufgaben am zweckmäßigsten zu erledigen, um den Mitgliedern spätestens am
22. die Heimreise zu ermöglichen, und am Tage darauf kam die Kunde von
einer neuen Vorlage, welche an prinzipiell politischer Bedeutung alle Streit¬
fragen der letzten Monate tief in den Schatten stellt. Wer fragt seit vorgestern
noch nach Gewerbeordnung, Tabaksteuer, Wirthschaftspolitik? Alle Aufmerk¬
samkeit richtet sich auf den "Entwurf eines Gesetzes zur Abwehr sozialdemo¬
kratischer Ausschreitungen", welchen Preußen beim Bundesrathe eingebracht hat.
Eine detaillirte Kritik dieser Vorlage im gegenwärtigen Augenblicke hätte keinen
Sinn. Heute oder morgen bereits soll der Bundesrath über sie Beschluß fassen,
und voraussichtlich noch ehe diese Zeilen an die Öffentlichkeit gelangen, wird
auch der Reichstag sein Urtheil abgegeben haben. Unsere Pflicht aber ist, zu
konstatiren, daß die Zwangslage, in welche man den Reichstag auf diese Weise
versetzt, von allen Parteien überaus peinlich empfunden wird. Auch wer
die Kontroverse, ob krankhafte Volksströmungen, wie die sozialdemokratische Be¬
wegung, überhaupt durch Ausnahmegesetze wirksam bekämpft werden können,
ganz bei Seite läßt, wird jedenfalls zugeben müssen, daß der preußische Antrag
zum mindesten die eingehendste, sorgfältigste Prüfung erheischen würde. Diese
Prüfung ist dem gegenwärtigen Reichstage schon aus physischen Gründen nicht
mehr möglich. Auch für die Parlamentarier gelten die Grenzen des mensch¬
lichen Könnens. Aber die Regierung spricht ein kategorisches an,r-s,ut, und in
der gouvernementalen Presse vernimmt man bereits die Vorklänge der Melodie,
welche nach der Ablehnung des Ausnahmegesetzes, gleichviel, ob dieselbe aus
materiellen oder nur aus formalen Gründen erfolgt wäre, angeschlagen werden
würde. "Sie wollen der Regierung die Mittel zur Ausrottung des sozial-
demokratischen Giftes nicht gewähren, darum fort mit ihnen!" -- dies allein
würde fortan der Kehrreim aller offiziösen Leitartikel sein.

Wir denken nicht, daß sich der Reichstag durch solche Perspektive in seinen
Entschließungen beeinflussen lassen wird. Der Gesetzgeber soll, wo es nöthig,
streng sein; niemals aber soll er im Zorn, niemals in Uebereilung handeln.
Diese Regel hat neulich gegenüber einer Maßregel von ungleich geringerer
Tragweite das preußische Abgeordnetenhaus beobachtet, -- wie könnte der
Reichstag sie leichtfertig in den Wind schlagen? Grade wegen des Präcedenz-



Noch einmal, in ihrem äußersten Stadium, muß diese ohnehin schon hin¬
länglich seltsame Reichstagssessivn einen vollständigen Wechsel der Szenerie er¬
leben. Am Donnerstag stritt man sich eine Stunde lang, wie die dringendsten
Aufgaben am zweckmäßigsten zu erledigen, um den Mitgliedern spätestens am
22. die Heimreise zu ermöglichen, und am Tage darauf kam die Kunde von
einer neuen Vorlage, welche an prinzipiell politischer Bedeutung alle Streit¬
fragen der letzten Monate tief in den Schatten stellt. Wer fragt seit vorgestern
noch nach Gewerbeordnung, Tabaksteuer, Wirthschaftspolitik? Alle Aufmerk¬
samkeit richtet sich auf den „Entwurf eines Gesetzes zur Abwehr sozialdemo¬
kratischer Ausschreitungen", welchen Preußen beim Bundesrathe eingebracht hat.
Eine detaillirte Kritik dieser Vorlage im gegenwärtigen Augenblicke hätte keinen
Sinn. Heute oder morgen bereits soll der Bundesrath über sie Beschluß fassen,
und voraussichtlich noch ehe diese Zeilen an die Öffentlichkeit gelangen, wird
auch der Reichstag sein Urtheil abgegeben haben. Unsere Pflicht aber ist, zu
konstatiren, daß die Zwangslage, in welche man den Reichstag auf diese Weise
versetzt, von allen Parteien überaus peinlich empfunden wird. Auch wer
die Kontroverse, ob krankhafte Volksströmungen, wie die sozialdemokratische Be¬
wegung, überhaupt durch Ausnahmegesetze wirksam bekämpft werden können,
ganz bei Seite läßt, wird jedenfalls zugeben müssen, daß der preußische Antrag
zum mindesten die eingehendste, sorgfältigste Prüfung erheischen würde. Diese
Prüfung ist dem gegenwärtigen Reichstage schon aus physischen Gründen nicht
mehr möglich. Auch für die Parlamentarier gelten die Grenzen des mensch¬
lichen Könnens. Aber die Regierung spricht ein kategorisches an,r-s,ut, und in
der gouvernementalen Presse vernimmt man bereits die Vorklänge der Melodie,
welche nach der Ablehnung des Ausnahmegesetzes, gleichviel, ob dieselbe aus
materiellen oder nur aus formalen Gründen erfolgt wäre, angeschlagen werden
würde. „Sie wollen der Regierung die Mittel zur Ausrottung des sozial-
demokratischen Giftes nicht gewähren, darum fort mit ihnen!" — dies allein
würde fortan der Kehrreim aller offiziösen Leitartikel sein.

Wir denken nicht, daß sich der Reichstag durch solche Perspektive in seinen
Entschließungen beeinflussen lassen wird. Der Gesetzgeber soll, wo es nöthig,
streng sein; niemals aber soll er im Zorn, niemals in Uebereilung handeln.
Diese Regel hat neulich gegenüber einer Maßregel von ungleich geringerer
Tragweite das preußische Abgeordnetenhaus beobachtet, — wie könnte der
Reichstag sie leichtfertig in den Wind schlagen? Grade wegen des Präcedenz-


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[0358] Noch einmal, in ihrem äußersten Stadium, muß diese ohnehin schon hin¬ länglich seltsame Reichstagssessivn einen vollständigen Wechsel der Szenerie er¬ leben. Am Donnerstag stritt man sich eine Stunde lang, wie die dringendsten Aufgaben am zweckmäßigsten zu erledigen, um den Mitgliedern spätestens am 22. die Heimreise zu ermöglichen, und am Tage darauf kam die Kunde von einer neuen Vorlage, welche an prinzipiell politischer Bedeutung alle Streit¬ fragen der letzten Monate tief in den Schatten stellt. Wer fragt seit vorgestern noch nach Gewerbeordnung, Tabaksteuer, Wirthschaftspolitik? Alle Aufmerk¬ samkeit richtet sich auf den „Entwurf eines Gesetzes zur Abwehr sozialdemo¬ kratischer Ausschreitungen", welchen Preußen beim Bundesrathe eingebracht hat. Eine detaillirte Kritik dieser Vorlage im gegenwärtigen Augenblicke hätte keinen Sinn. Heute oder morgen bereits soll der Bundesrath über sie Beschluß fassen, und voraussichtlich noch ehe diese Zeilen an die Öffentlichkeit gelangen, wird auch der Reichstag sein Urtheil abgegeben haben. Unsere Pflicht aber ist, zu konstatiren, daß die Zwangslage, in welche man den Reichstag auf diese Weise versetzt, von allen Parteien überaus peinlich empfunden wird. Auch wer die Kontroverse, ob krankhafte Volksströmungen, wie die sozialdemokratische Be¬ wegung, überhaupt durch Ausnahmegesetze wirksam bekämpft werden können, ganz bei Seite läßt, wird jedenfalls zugeben müssen, daß der preußische Antrag zum mindesten die eingehendste, sorgfältigste Prüfung erheischen würde. Diese Prüfung ist dem gegenwärtigen Reichstage schon aus physischen Gründen nicht mehr möglich. Auch für die Parlamentarier gelten die Grenzen des mensch¬ lichen Könnens. Aber die Regierung spricht ein kategorisches an,r-s,ut, und in der gouvernementalen Presse vernimmt man bereits die Vorklänge der Melodie, welche nach der Ablehnung des Ausnahmegesetzes, gleichviel, ob dieselbe aus materiellen oder nur aus formalen Gründen erfolgt wäre, angeschlagen werden würde. „Sie wollen der Regierung die Mittel zur Ausrottung des sozial- demokratischen Giftes nicht gewähren, darum fort mit ihnen!" — dies allein würde fortan der Kehrreim aller offiziösen Leitartikel sein. Wir denken nicht, daß sich der Reichstag durch solche Perspektive in seinen Entschließungen beeinflussen lassen wird. Der Gesetzgeber soll, wo es nöthig, streng sein; niemals aber soll er im Zorn, niemals in Uebereilung handeln. Diese Regel hat neulich gegenüber einer Maßregel von ungleich geringerer Tragweite das preußische Abgeordnetenhaus beobachtet, — wie könnte der Reichstag sie leichtfertig in den Wind schlagen? Grade wegen des Präcedenz-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/358>, abgerufen am 27.07.2024.