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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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lauter zeitgenössische Dichter, über welche meist in Italien selbst die Akten noch
nicht geschlossen sind; Mitlebende, über welche das Urtheil der eigenen Lands¬
leute noch nicht rechtskräftig ist; daher muß naturgemäß auch der großen
Menge der deutschen Leser, deren Urtheil durch die Sammlung selbst doch pro¬
vocirt wird, jeder andere Maßstab zur Beurtheilung des Autors fehlen; wir
sind einzig und allein auf die eine Erzählung oder auf die paar Nummern
angewiesen, welche die Sammlung mittheilt. Was der Autor sonst geschrieben,
erfahren wir hier nicht. Die italienischen Quellen, aus denen unsre Lands¬
leute etwa über die bürgerliche Stellung und den Bildungsgang des italieni¬
schen Dichters sich Raths erholen könnten, sind uns Deutschen meist ganz un¬
zugänglich. Aus allen diesen Gründen ist der Wunsch nach einem, wenn auch
uoch so kurzen biographischen und literarischen Vorwort für jeden Novellisten,
der in der Sammlung Aufnahme gefunden hat, gewiß durchaus gerechtfertigt.

Der zweite Band der Sammlung, den wir bei jener ersten Erwähnung
zurückstellten, um die Werke Nievo's im Zusammenhang zu betrachten, enthält
einen kleinen Roman von Anton GiulioBarrili, Val d'Olivi (das Oliven¬
thal). Die Handlung der Erzählung ist außerordentlich einfach. Eine gefeierte
Schönheit Mailands, Donna Julia von Andrate, tugendhaft, edel, reich, "die
schönste aller Herzoginnen" verschwindet, nachdem sie von ihrem wüsten ver¬
schwenderischen Gatten erst durch Scheidung, zwei Jahre später auch durch den
Tod getrennt worden ist, -- sie befindet sich bei Eintritt dieses Ereignisses
"im jugendlichen Alter von zweiundzwanzig Jahren" -- von der Bildfläche
der Großstadt, und, als Gerüchte boshaftester Art sie selbst auf ihren Landsitz
verfolgen, auch von diesem. Niemand weiß, wohin sie sich gewendet hat, und
allmälig wird sie vergessen. Ein junger mailändischer Stutzer und Genu߬
mensch, Graf Flaviano Delaiti, gelangt in Folge eines Unglücksfalles, den sein
Postwagen erlitten, in die kleine Fischerstadt Roll und entdeckt hier auf einem
neuerbauten Landsitz "Val d'Olivi", tief versteckt vor der Welt, die Verschwundene.
Sie ist die Wohlthäterin der Gegend, die Lehrerin der armen Kinder; wir
bereiten uns vor, ein zweites "Engelsherz"*) in ihr zu finden. Wir begreifen
vollständig, daß der junge Graf von Val d' Olivi sich so angezogen fühlt,
daß er Woche um Woche, Monat um Monat, die ursprünglich auf den fol¬
genden Tag festgesetzte Abreise von Roll verschiebt.

Außer der wachsenden Neigung zu Julia fesselt ihn aber an diesen ent¬
legenen Weltwinkel auch die wachsende Eifersucht. Der schlichte Sohn einer
wohlhabenden Wittwe Roll's, Emanuel Lanfranco, hat schon zwei Jahre vor



*) Der Titel des ersten Romans der Sammlung von Jppolito Nievo. Vergl. Grenz¬
boten 1373, I. S. 426. 463.

lauter zeitgenössische Dichter, über welche meist in Italien selbst die Akten noch
nicht geschlossen sind; Mitlebende, über welche das Urtheil der eigenen Lands¬
leute noch nicht rechtskräftig ist; daher muß naturgemäß auch der großen
Menge der deutschen Leser, deren Urtheil durch die Sammlung selbst doch pro¬
vocirt wird, jeder andere Maßstab zur Beurtheilung des Autors fehlen; wir
sind einzig und allein auf die eine Erzählung oder auf die paar Nummern
angewiesen, welche die Sammlung mittheilt. Was der Autor sonst geschrieben,
erfahren wir hier nicht. Die italienischen Quellen, aus denen unsre Lands¬
leute etwa über die bürgerliche Stellung und den Bildungsgang des italieni¬
schen Dichters sich Raths erholen könnten, sind uns Deutschen meist ganz un¬
zugänglich. Aus allen diesen Gründen ist der Wunsch nach einem, wenn auch
uoch so kurzen biographischen und literarischen Vorwort für jeden Novellisten,
der in der Sammlung Aufnahme gefunden hat, gewiß durchaus gerechtfertigt.

Der zweite Band der Sammlung, den wir bei jener ersten Erwähnung
zurückstellten, um die Werke Nievo's im Zusammenhang zu betrachten, enthält
einen kleinen Roman von Anton GiulioBarrili, Val d'Olivi (das Oliven¬
thal). Die Handlung der Erzählung ist außerordentlich einfach. Eine gefeierte
Schönheit Mailands, Donna Julia von Andrate, tugendhaft, edel, reich, „die
schönste aller Herzoginnen" verschwindet, nachdem sie von ihrem wüsten ver¬
schwenderischen Gatten erst durch Scheidung, zwei Jahre später auch durch den
Tod getrennt worden ist, — sie befindet sich bei Eintritt dieses Ereignisses
„im jugendlichen Alter von zweiundzwanzig Jahren" — von der Bildfläche
der Großstadt, und, als Gerüchte boshaftester Art sie selbst auf ihren Landsitz
verfolgen, auch von diesem. Niemand weiß, wohin sie sich gewendet hat, und
allmälig wird sie vergessen. Ein junger mailändischer Stutzer und Genu߬
mensch, Graf Flaviano Delaiti, gelangt in Folge eines Unglücksfalles, den sein
Postwagen erlitten, in die kleine Fischerstadt Roll und entdeckt hier auf einem
neuerbauten Landsitz „Val d'Olivi", tief versteckt vor der Welt, die Verschwundene.
Sie ist die Wohlthäterin der Gegend, die Lehrerin der armen Kinder; wir
bereiten uns vor, ein zweites „Engelsherz"*) in ihr zu finden. Wir begreifen
vollständig, daß der junge Graf von Val d' Olivi sich so angezogen fühlt,
daß er Woche um Woche, Monat um Monat, die ursprünglich auf den fol¬
genden Tag festgesetzte Abreise von Roll verschiebt.

Außer der wachsenden Neigung zu Julia fesselt ihn aber an diesen ent¬
legenen Weltwinkel auch die wachsende Eifersucht. Der schlichte Sohn einer
wohlhabenden Wittwe Roll's, Emanuel Lanfranco, hat schon zwei Jahre vor



*) Der Titel des ersten Romans der Sammlung von Jppolito Nievo. Vergl. Grenz¬
boten 1373, I. S. 426. 463.
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[0350] lauter zeitgenössische Dichter, über welche meist in Italien selbst die Akten noch nicht geschlossen sind; Mitlebende, über welche das Urtheil der eigenen Lands¬ leute noch nicht rechtskräftig ist; daher muß naturgemäß auch der großen Menge der deutschen Leser, deren Urtheil durch die Sammlung selbst doch pro¬ vocirt wird, jeder andere Maßstab zur Beurtheilung des Autors fehlen; wir sind einzig und allein auf die eine Erzählung oder auf die paar Nummern angewiesen, welche die Sammlung mittheilt. Was der Autor sonst geschrieben, erfahren wir hier nicht. Die italienischen Quellen, aus denen unsre Lands¬ leute etwa über die bürgerliche Stellung und den Bildungsgang des italieni¬ schen Dichters sich Raths erholen könnten, sind uns Deutschen meist ganz un¬ zugänglich. Aus allen diesen Gründen ist der Wunsch nach einem, wenn auch uoch so kurzen biographischen und literarischen Vorwort für jeden Novellisten, der in der Sammlung Aufnahme gefunden hat, gewiß durchaus gerechtfertigt. Der zweite Band der Sammlung, den wir bei jener ersten Erwähnung zurückstellten, um die Werke Nievo's im Zusammenhang zu betrachten, enthält einen kleinen Roman von Anton GiulioBarrili, Val d'Olivi (das Oliven¬ thal). Die Handlung der Erzählung ist außerordentlich einfach. Eine gefeierte Schönheit Mailands, Donna Julia von Andrate, tugendhaft, edel, reich, „die schönste aller Herzoginnen" verschwindet, nachdem sie von ihrem wüsten ver¬ schwenderischen Gatten erst durch Scheidung, zwei Jahre später auch durch den Tod getrennt worden ist, — sie befindet sich bei Eintritt dieses Ereignisses „im jugendlichen Alter von zweiundzwanzig Jahren" — von der Bildfläche der Großstadt, und, als Gerüchte boshaftester Art sie selbst auf ihren Landsitz verfolgen, auch von diesem. Niemand weiß, wohin sie sich gewendet hat, und allmälig wird sie vergessen. Ein junger mailändischer Stutzer und Genu߬ mensch, Graf Flaviano Delaiti, gelangt in Folge eines Unglücksfalles, den sein Postwagen erlitten, in die kleine Fischerstadt Roll und entdeckt hier auf einem neuerbauten Landsitz „Val d'Olivi", tief versteckt vor der Welt, die Verschwundene. Sie ist die Wohlthäterin der Gegend, die Lehrerin der armen Kinder; wir bereiten uns vor, ein zweites „Engelsherz"*) in ihr zu finden. Wir begreifen vollständig, daß der junge Graf von Val d' Olivi sich so angezogen fühlt, daß er Woche um Woche, Monat um Monat, die ursprünglich auf den fol¬ genden Tag festgesetzte Abreise von Roll verschiebt. Außer der wachsenden Neigung zu Julia fesselt ihn aber an diesen ent¬ legenen Weltwinkel auch die wachsende Eifersucht. Der schlichte Sohn einer wohlhabenden Wittwe Roll's, Emanuel Lanfranco, hat schon zwei Jahre vor *) Der Titel des ersten Romans der Sammlung von Jppolito Nievo. Vergl. Grenz¬ boten 1373, I. S. 426. 463.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/350>, abgerufen am 06.10.2024.