Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Soldaten verzeiht man in Frankreich einfältige Großsprecherei. Frankreich
hat den General seine vierundachtzig Lebensjahre lang für eine ernste Persönlichkeit
genommen, und welche Fülle unfreiwilliger Komik birgt dieses lange Leben!
Changarnier führte seine "Feldzüge" -- einige Expeditionen gegen undiszipli-
nirte Araber -- fortwährend auf den Lippen. Er sprach immer von seinen
Wunden, seinen Gefechten, seinen Siegen und Trophäen. Schließlich ahmte
er in Haltung, Geberde und Ausdrucksweise aufs Ergötzlichste den ersten Napo¬
leon nach. Die Regierung der Februarrevolution nahm den Degen des Sieg¬
gewohnten freudig an. Damit kamen die stolzesten Tage seines Lebens. Von
früh bis spät sprengte er in prächtiger Uniform hoch zu Rosse durch die
Straßen, warf den Damen freudige Blicke zu, erwiderte den Männern mit
unvergleichlicher Handbewegung Grüße, die ihm Niemand geboten hatte, und
spielte sich mit einem Worte auf den Diktator hinaus. Er haranguirte die
Truppen mit studirtlakonischen Ansprachen. Als er die Eineute der Rothen in
den Junitagen niedergeworfen, verlor er vollends den Kopf. Bis dahin hatte
er sich nur für den Retter Frankreichs gehalten, jetzt hielt er sich für den
Retter der Menschheit. Changarnier lachte verächtlich, wenn man ihm von
den Absichten des Prinz-Präsidenten Louis Bonaparte sprach. "Noch wenige
Wochen vor dem Staatsstreich rief er der unruhigen Nationalversammlung
das pompöse Theaterwort zu: "Vertreter des Volks, berathet in Frieden."
Als er, wenige Wochen darauf mit den übrigen Abgeordneten im Staatsge-
fa'ngniß zu Mazas saß und lebhaft über die Ereignisse des Tages deklamirte,
ruf ihm aus einer andern Gruppe ein Abgeordneter mit vortrefflicher Nach¬
ahmung der theatralischen Manier Changarniers zu: "Vertreter des Volkes,
berathet in Frieden!" Der General erbleichte und vergaß zum ersten Mal in
seinem Leben von der Schlacht von Constantine zu erzählen."

Bekannt ist, daß Changarnier dann viele Jahre in der Verbannung ein
ganz obskures Leben führte, "was ihn aber nicht verhinderte, aller Welt zu
^zählen, und ernstlich zu glauben, daß Napoleon Meuchelmörder gegen ihn
"usgesaudt habe und sich nicht eher für sicher auf dem Thron halte, als bis
^ seinen "großen Feind" aus dem Wege geräumt haben würde." Erst l870,
beim Ausbruch des Krieges mit Deutschland, tauchte er wieder in Frankreich
auf und wußte sich auch hier wundervoll in Scene zu setzen. "Alle Welt er¬
innert sich noch einer melodramatischen Erzählung, die im Juli 1870 durch
die Blätter lief, einer Erzählung von einem schlanken Greise, der in einen
weiten grauen Mantel gehüllt, eines Tages im Hauptquartier erschien, und
den Kaiser zu sprechen wünschte. Man führte ihn ins Gemach Napoleons;
da ließ der schlanke Greis den weiten großen Mantel fallen und der Kaiser
sah -- Changarnier vor sich. "Sire", sagte der schlanke Greis, "das Vater-


dem Soldaten verzeiht man in Frankreich einfältige Großsprecherei. Frankreich
hat den General seine vierundachtzig Lebensjahre lang für eine ernste Persönlichkeit
genommen, und welche Fülle unfreiwilliger Komik birgt dieses lange Leben!
Changarnier führte seine „Feldzüge" — einige Expeditionen gegen undiszipli-
nirte Araber — fortwährend auf den Lippen. Er sprach immer von seinen
Wunden, seinen Gefechten, seinen Siegen und Trophäen. Schließlich ahmte
er in Haltung, Geberde und Ausdrucksweise aufs Ergötzlichste den ersten Napo¬
leon nach. Die Regierung der Februarrevolution nahm den Degen des Sieg¬
gewohnten freudig an. Damit kamen die stolzesten Tage seines Lebens. Von
früh bis spät sprengte er in prächtiger Uniform hoch zu Rosse durch die
Straßen, warf den Damen freudige Blicke zu, erwiderte den Männern mit
unvergleichlicher Handbewegung Grüße, die ihm Niemand geboten hatte, und
spielte sich mit einem Worte auf den Diktator hinaus. Er haranguirte die
Truppen mit studirtlakonischen Ansprachen. Als er die Eineute der Rothen in
den Junitagen niedergeworfen, verlor er vollends den Kopf. Bis dahin hatte
er sich nur für den Retter Frankreichs gehalten, jetzt hielt er sich für den
Retter der Menschheit. Changarnier lachte verächtlich, wenn man ihm von
den Absichten des Prinz-Präsidenten Louis Bonaparte sprach. „Noch wenige
Wochen vor dem Staatsstreich rief er der unruhigen Nationalversammlung
das pompöse Theaterwort zu: „Vertreter des Volks, berathet in Frieden."
Als er, wenige Wochen darauf mit den übrigen Abgeordneten im Staatsge-
fa'ngniß zu Mazas saß und lebhaft über die Ereignisse des Tages deklamirte,
ruf ihm aus einer andern Gruppe ein Abgeordneter mit vortrefflicher Nach¬
ahmung der theatralischen Manier Changarniers zu: „Vertreter des Volkes,
berathet in Frieden!" Der General erbleichte und vergaß zum ersten Mal in
seinem Leben von der Schlacht von Constantine zu erzählen."

Bekannt ist, daß Changarnier dann viele Jahre in der Verbannung ein
ganz obskures Leben führte, „was ihn aber nicht verhinderte, aller Welt zu
^zählen, und ernstlich zu glauben, daß Napoleon Meuchelmörder gegen ihn
"usgesaudt habe und sich nicht eher für sicher auf dem Thron halte, als bis
^ seinen „großen Feind" aus dem Wege geräumt haben würde." Erst l870,
beim Ausbruch des Krieges mit Deutschland, tauchte er wieder in Frankreich
auf und wußte sich auch hier wundervoll in Scene zu setzen. „Alle Welt er¬
innert sich noch einer melodramatischen Erzählung, die im Juli 1870 durch
die Blätter lief, einer Erzählung von einem schlanken Greise, der in einen
weiten grauen Mantel gehüllt, eines Tages im Hauptquartier erschien, und
den Kaiser zu sprechen wünschte. Man führte ihn ins Gemach Napoleons;
da ließ der schlanke Greis den weiten großen Mantel fallen und der Kaiser
sah — Changarnier vor sich. „Sire", sagte der schlanke Greis, „das Vater-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0343" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140164"/>
          <p xml:id="ID_1005" prev="#ID_1004"> dem Soldaten verzeiht man in Frankreich einfältige Großsprecherei. Frankreich<lb/>
hat den General seine vierundachtzig Lebensjahre lang für eine ernste Persönlichkeit<lb/>
genommen, und welche Fülle unfreiwilliger Komik birgt dieses lange Leben!<lb/>
Changarnier führte seine &#x201E;Feldzüge" &#x2014; einige Expeditionen gegen undiszipli-<lb/>
nirte Araber &#x2014; fortwährend auf den Lippen. Er sprach immer von seinen<lb/>
Wunden, seinen Gefechten, seinen Siegen und Trophäen. Schließlich ahmte<lb/>
er in Haltung, Geberde und Ausdrucksweise aufs Ergötzlichste den ersten Napo¬<lb/>
leon nach. Die Regierung der Februarrevolution nahm den Degen des Sieg¬<lb/>
gewohnten freudig an. Damit kamen die stolzesten Tage seines Lebens. Von<lb/>
früh bis spät sprengte er in prächtiger Uniform hoch zu Rosse durch die<lb/>
Straßen, warf den Damen freudige Blicke zu, erwiderte den Männern mit<lb/>
unvergleichlicher Handbewegung Grüße, die ihm Niemand geboten hatte, und<lb/>
spielte sich mit einem Worte auf den Diktator hinaus. Er haranguirte die<lb/>
Truppen mit studirtlakonischen Ansprachen. Als er die Eineute der Rothen in<lb/>
den Junitagen niedergeworfen, verlor er vollends den Kopf. Bis dahin hatte<lb/>
er sich nur für den Retter Frankreichs gehalten, jetzt hielt er sich für den<lb/>
Retter der Menschheit. Changarnier lachte verächtlich, wenn man ihm von<lb/>
den Absichten des Prinz-Präsidenten Louis Bonaparte sprach. &#x201E;Noch wenige<lb/>
Wochen vor dem Staatsstreich rief er der unruhigen Nationalversammlung<lb/>
das pompöse Theaterwort zu: &#x201E;Vertreter des Volks, berathet in Frieden."<lb/>
Als er, wenige Wochen darauf mit den übrigen Abgeordneten im Staatsge-<lb/>
fa'ngniß zu Mazas saß und lebhaft über die Ereignisse des Tages deklamirte,<lb/>
ruf ihm aus einer andern Gruppe ein Abgeordneter mit vortrefflicher Nach¬<lb/>
ahmung der theatralischen Manier Changarniers zu: &#x201E;Vertreter des Volkes,<lb/>
berathet in Frieden!" Der General erbleichte und vergaß zum ersten Mal in<lb/>
seinem Leben von der Schlacht von Constantine zu erzählen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1006" next="#ID_1007"> Bekannt ist, daß Changarnier dann viele Jahre in der Verbannung ein<lb/>
ganz obskures Leben führte, &#x201E;was ihn aber nicht verhinderte, aller Welt zu<lb/>
^zählen, und ernstlich zu glauben, daß Napoleon Meuchelmörder gegen ihn<lb/>
"usgesaudt habe und sich nicht eher für sicher auf dem Thron halte, als bis<lb/>
^ seinen &#x201E;großen Feind" aus dem Wege geräumt haben würde." Erst l870,<lb/>
beim Ausbruch des Krieges mit Deutschland, tauchte er wieder in Frankreich<lb/>
auf und wußte sich auch hier wundervoll in Scene zu setzen. &#x201E;Alle Welt er¬<lb/>
innert sich noch einer melodramatischen Erzählung, die im Juli 1870 durch<lb/>
die Blätter lief, einer Erzählung von einem schlanken Greise, der in einen<lb/>
weiten grauen Mantel gehüllt, eines Tages im Hauptquartier erschien, und<lb/>
den Kaiser zu sprechen wünschte. Man führte ihn ins Gemach Napoleons;<lb/>
da ließ der schlanke Greis den weiten großen Mantel fallen und der Kaiser<lb/>
sah &#x2014; Changarnier vor sich.  &#x201E;Sire", sagte der schlanke Greis, &#x201E;das Vater-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0343] dem Soldaten verzeiht man in Frankreich einfältige Großsprecherei. Frankreich hat den General seine vierundachtzig Lebensjahre lang für eine ernste Persönlichkeit genommen, und welche Fülle unfreiwilliger Komik birgt dieses lange Leben! Changarnier führte seine „Feldzüge" — einige Expeditionen gegen undiszipli- nirte Araber — fortwährend auf den Lippen. Er sprach immer von seinen Wunden, seinen Gefechten, seinen Siegen und Trophäen. Schließlich ahmte er in Haltung, Geberde und Ausdrucksweise aufs Ergötzlichste den ersten Napo¬ leon nach. Die Regierung der Februarrevolution nahm den Degen des Sieg¬ gewohnten freudig an. Damit kamen die stolzesten Tage seines Lebens. Von früh bis spät sprengte er in prächtiger Uniform hoch zu Rosse durch die Straßen, warf den Damen freudige Blicke zu, erwiderte den Männern mit unvergleichlicher Handbewegung Grüße, die ihm Niemand geboten hatte, und spielte sich mit einem Worte auf den Diktator hinaus. Er haranguirte die Truppen mit studirtlakonischen Ansprachen. Als er die Eineute der Rothen in den Junitagen niedergeworfen, verlor er vollends den Kopf. Bis dahin hatte er sich nur für den Retter Frankreichs gehalten, jetzt hielt er sich für den Retter der Menschheit. Changarnier lachte verächtlich, wenn man ihm von den Absichten des Prinz-Präsidenten Louis Bonaparte sprach. „Noch wenige Wochen vor dem Staatsstreich rief er der unruhigen Nationalversammlung das pompöse Theaterwort zu: „Vertreter des Volks, berathet in Frieden." Als er, wenige Wochen darauf mit den übrigen Abgeordneten im Staatsge- fa'ngniß zu Mazas saß und lebhaft über die Ereignisse des Tages deklamirte, ruf ihm aus einer andern Gruppe ein Abgeordneter mit vortrefflicher Nach¬ ahmung der theatralischen Manier Changarniers zu: „Vertreter des Volkes, berathet in Frieden!" Der General erbleichte und vergaß zum ersten Mal in seinem Leben von der Schlacht von Constantine zu erzählen." Bekannt ist, daß Changarnier dann viele Jahre in der Verbannung ein ganz obskures Leben führte, „was ihn aber nicht verhinderte, aller Welt zu ^zählen, und ernstlich zu glauben, daß Napoleon Meuchelmörder gegen ihn "usgesaudt habe und sich nicht eher für sicher auf dem Thron halte, als bis ^ seinen „großen Feind" aus dem Wege geräumt haben würde." Erst l870, beim Ausbruch des Krieges mit Deutschland, tauchte er wieder in Frankreich auf und wußte sich auch hier wundervoll in Scene zu setzen. „Alle Welt er¬ innert sich noch einer melodramatischen Erzählung, die im Juli 1870 durch die Blätter lief, einer Erzählung von einem schlanken Greise, der in einen weiten grauen Mantel gehüllt, eines Tages im Hauptquartier erschien, und den Kaiser zu sprechen wünschte. Man führte ihn ins Gemach Napoleons; da ließ der schlanke Greis den weiten großen Mantel fallen und der Kaiser sah — Changarnier vor sich. „Sire", sagte der schlanke Greis, „das Vater-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/343
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/343>, abgerufen am 27.07.2024.