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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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deren Uebertretung unser Strafgesetz ruhig als vlvse "Uebertretung" ahnden
konnte, so gewissenhaft wird von der großen Mehrzahl bei uns die Polizei¬
stunde gehandhabt. Das französische Gesetz bestimmte weiter, daß die Wirthe
einem sichtlich Betrunkenen nichts mehr zu trinken geben dürfen u. s. w. Auch
gegen eine solche Beförderung der Völlerei hatte, im vollen Einklang mit dem
moralischen Gewissen der Nation, schon lange zuvor unsre Gewerbeordnung
ein sehr wirksames Gegenmittel ergriffen, indem sie verbot, daß denen, die
überhaupt verdächtig seien, die Schankkonzession zu verbotenen Spiel, zu Un¬
zucht oder Völlerei zu mißbrauchen, die Konzession verweigert, und, wenn ein
solcher Mißbrauch der gewährten Freiheit nachzuweisen, wieder (und event,
für immer) entzogen werden könne. Darin liegen sehr energische Garantien
gegen jede Durchbrechung oder Gefährdung der moralischen Ordnung, während
das französiische Gesetz nach den Studien Dr. Lunier's und Nordau's bisher
zur Heilung des Uebels so gut wie nichts gethan hat.

Die Verbreitung dieses Uebels aber in Frankreich ist geradezu furchtbar
zu nennen. Nach den Zahlen, die Lunier uus mitgetheilt, kann es leider
durchaus nicht für übertrieben gelten, wenn Nordan sagt: "Alle Welt trinkt
hier -- ohne Unterschied des Alters, des Geschlechtes und des Standes." Die
Schreihälse in der Wiege schon erhalten Wein eingeflößt. Die Schulkinder
nehmen stolz ein Fläschchen Rothwein mit in die Schule zum Frühstück, "um
sich zu erfrischen". Daß die Pariser Arbeiter ohne Ausnahme mehr oder
weniger discrete Trunkenbolde sind, ist schon in unserm ersten Artikel erwähnt
worden. Nordau hat eine sehr große Zahl dieser Sünder auf ihrem Schmer-
Mslager im Spital nach ihrer Lebensweise befragt und dadurch für die
Tngendhafteren von ihnen folgendes Normalbild ihres Alkoholkonsums ge¬
wonnen. Des Morgens trinkt der Pariser Arbeiter einen Schnaps, der, wenn
^ sauft ist, ein "Bitter" heißt, wenn stärker "vMö-Avsior" (Nachenbrenner)
oder "oassL-poirrwo" (Brnstzerbrecher); dazu wird entweder nichts oder höch¬
stens eine Wassersuppe mit Brod gegessen.") Gegen elf Uhr nimmt der Ar¬
beiter sein Frühstück, eine höchst ungenügende Fleischspeise, sehr viel Brod, und
weist einen ganzen Liter Rothwein. Nach dem Frühstück natürlich das unver-
weidliche Gläschen Cognac, das technisch und vertraulich ^vurto" oder
"rav^orcko" (Nacheuspüler) genannt wird. Um sechs oder sieben Uhr er-



" *) Dein Verfasser dieses wurde übrigens während des Krieges in wohlhabenden fraii'
Mschem Hanse, wo er sich der besonderen Gunst des Qnartierwirthes erfreute, so das; dieser
'du wie ein Glied der Familie behandelte, früh um fünf der gransame Landwcihwein der
^gerd als Frühstück vorgesetzt, von Pont^-Moussou bis in die Champagne hinein; Kaffee
"Is Frühstück kannte man hier gar nicht; in Rheims, im Hanse der Venvs VUgnot wurde
Mh sechs yhx z,"" K^i: ein Fläschchen echte Veuve beigegeben n. s, w.
Grenzboten II. 1378. 3V

deren Uebertretung unser Strafgesetz ruhig als vlvse „Uebertretung" ahnden
konnte, so gewissenhaft wird von der großen Mehrzahl bei uns die Polizei¬
stunde gehandhabt. Das französische Gesetz bestimmte weiter, daß die Wirthe
einem sichtlich Betrunkenen nichts mehr zu trinken geben dürfen u. s. w. Auch
gegen eine solche Beförderung der Völlerei hatte, im vollen Einklang mit dem
moralischen Gewissen der Nation, schon lange zuvor unsre Gewerbeordnung
ein sehr wirksames Gegenmittel ergriffen, indem sie verbot, daß denen, die
überhaupt verdächtig seien, die Schankkonzession zu verbotenen Spiel, zu Un¬
zucht oder Völlerei zu mißbrauchen, die Konzession verweigert, und, wenn ein
solcher Mißbrauch der gewährten Freiheit nachzuweisen, wieder (und event,
für immer) entzogen werden könne. Darin liegen sehr energische Garantien
gegen jede Durchbrechung oder Gefährdung der moralischen Ordnung, während
das französiische Gesetz nach den Studien Dr. Lunier's und Nordau's bisher
zur Heilung des Uebels so gut wie nichts gethan hat.

Die Verbreitung dieses Uebels aber in Frankreich ist geradezu furchtbar
zu nennen. Nach den Zahlen, die Lunier uus mitgetheilt, kann es leider
durchaus nicht für übertrieben gelten, wenn Nordan sagt: „Alle Welt trinkt
hier — ohne Unterschied des Alters, des Geschlechtes und des Standes." Die
Schreihälse in der Wiege schon erhalten Wein eingeflößt. Die Schulkinder
nehmen stolz ein Fläschchen Rothwein mit in die Schule zum Frühstück, „um
sich zu erfrischen". Daß die Pariser Arbeiter ohne Ausnahme mehr oder
weniger discrete Trunkenbolde sind, ist schon in unserm ersten Artikel erwähnt
worden. Nordau hat eine sehr große Zahl dieser Sünder auf ihrem Schmer-
Mslager im Spital nach ihrer Lebensweise befragt und dadurch für die
Tngendhafteren von ihnen folgendes Normalbild ihres Alkoholkonsums ge¬
wonnen. Des Morgens trinkt der Pariser Arbeiter einen Schnaps, der, wenn
^ sauft ist, ein „Bitter" heißt, wenn stärker „vMö-Avsior" (Nachenbrenner)
oder „oassL-poirrwo" (Brnstzerbrecher); dazu wird entweder nichts oder höch¬
stens eine Wassersuppe mit Brod gegessen.") Gegen elf Uhr nimmt der Ar¬
beiter sein Frühstück, eine höchst ungenügende Fleischspeise, sehr viel Brod, und
weist einen ganzen Liter Rothwein. Nach dem Frühstück natürlich das unver-
weidliche Gläschen Cognac, das technisch und vertraulich ^vurto" oder
«rav^orcko" (Nacheuspüler) genannt wird. Um sechs oder sieben Uhr er-



„ *) Dein Verfasser dieses wurde übrigens während des Krieges in wohlhabenden fraii'
Mschem Hanse, wo er sich der besonderen Gunst des Qnartierwirthes erfreute, so das; dieser
'du wie ein Glied der Familie behandelte, früh um fünf der gransame Landwcihwein der
^gerd als Frühstück vorgesetzt, von Pont^-Moussou bis in die Champagne hinein; Kaffee
"Is Frühstück kannte man hier gar nicht; in Rheims, im Hanse der Venvs VUgnot wurde
Mh sechs yhx z,„„ K^i: ein Fläschchen echte Veuve beigegeben n. s, w.
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[0309] deren Uebertretung unser Strafgesetz ruhig als vlvse „Uebertretung" ahnden konnte, so gewissenhaft wird von der großen Mehrzahl bei uns die Polizei¬ stunde gehandhabt. Das französische Gesetz bestimmte weiter, daß die Wirthe einem sichtlich Betrunkenen nichts mehr zu trinken geben dürfen u. s. w. Auch gegen eine solche Beförderung der Völlerei hatte, im vollen Einklang mit dem moralischen Gewissen der Nation, schon lange zuvor unsre Gewerbeordnung ein sehr wirksames Gegenmittel ergriffen, indem sie verbot, daß denen, die überhaupt verdächtig seien, die Schankkonzession zu verbotenen Spiel, zu Un¬ zucht oder Völlerei zu mißbrauchen, die Konzession verweigert, und, wenn ein solcher Mißbrauch der gewährten Freiheit nachzuweisen, wieder (und event, für immer) entzogen werden könne. Darin liegen sehr energische Garantien gegen jede Durchbrechung oder Gefährdung der moralischen Ordnung, während das französiische Gesetz nach den Studien Dr. Lunier's und Nordau's bisher zur Heilung des Uebels so gut wie nichts gethan hat. Die Verbreitung dieses Uebels aber in Frankreich ist geradezu furchtbar zu nennen. Nach den Zahlen, die Lunier uus mitgetheilt, kann es leider durchaus nicht für übertrieben gelten, wenn Nordan sagt: „Alle Welt trinkt hier — ohne Unterschied des Alters, des Geschlechtes und des Standes." Die Schreihälse in der Wiege schon erhalten Wein eingeflößt. Die Schulkinder nehmen stolz ein Fläschchen Rothwein mit in die Schule zum Frühstück, „um sich zu erfrischen". Daß die Pariser Arbeiter ohne Ausnahme mehr oder weniger discrete Trunkenbolde sind, ist schon in unserm ersten Artikel erwähnt worden. Nordau hat eine sehr große Zahl dieser Sünder auf ihrem Schmer- Mslager im Spital nach ihrer Lebensweise befragt und dadurch für die Tngendhafteren von ihnen folgendes Normalbild ihres Alkoholkonsums ge¬ wonnen. Des Morgens trinkt der Pariser Arbeiter einen Schnaps, der, wenn ^ sauft ist, ein „Bitter" heißt, wenn stärker „vMö-Avsior" (Nachenbrenner) oder „oassL-poirrwo" (Brnstzerbrecher); dazu wird entweder nichts oder höch¬ stens eine Wassersuppe mit Brod gegessen.") Gegen elf Uhr nimmt der Ar¬ beiter sein Frühstück, eine höchst ungenügende Fleischspeise, sehr viel Brod, und weist einen ganzen Liter Rothwein. Nach dem Frühstück natürlich das unver- weidliche Gläschen Cognac, das technisch und vertraulich ^vurto" oder «rav^orcko" (Nacheuspüler) genannt wird. Um sechs oder sieben Uhr er- „ *) Dein Verfasser dieses wurde übrigens während des Krieges in wohlhabenden fraii' Mschem Hanse, wo er sich der besonderen Gunst des Qnartierwirthes erfreute, so das; dieser 'du wie ein Glied der Familie behandelte, früh um fünf der gransame Landwcihwein der ^gerd als Frühstück vorgesetzt, von Pont^-Moussou bis in die Champagne hinein; Kaffee "Is Frühstück kannte man hier gar nicht; in Rheims, im Hanse der Venvs VUgnot wurde Mh sechs yhx z,„„ K^i: ein Fläschchen echte Veuve beigegeben n. s, w. Grenzboten II. 1378. 3V

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/309>, abgerufen am 27.07.2024.