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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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merksam, die mitunter freilich im sinnlichen Ausdruck etwas über die Grenze
gingen.

Der wichtigste Verkehr für Wieland wurde Dr. Zimmermann (26 I.),
der unter Haller in Göttingen studirt hatte und nun Physikus in einer Berner
Landstadt war. -- Eine lebhafte Einbildungskraft, die es nie zum Schaffen
brachte; sehr feine Empfindungen und rasche Gedanken; ein heftiger Trieb nach
allseitiger Erkenntniß, durch eine umfassende aber ziemlich wüste Lektüre ge¬
nährt; ein krankhafter Ehrgeiz, durch Ueberspannung des Nervensystems ge¬
schärft; fortwährender Wechsel zwischen Selbstüberschätzung und Kleinmuth;
peinliche Empfindlichkeit für alle kleinen Bitterkeiten des Lebens; eine Hypo¬
chondrie, die sich oft zum Menschenhaß steigerte. Er stand gleichmäßig unter
dem Bann von Klopstock und Rousseau, und wußte Shakespeare vollkommen
zu würdigen. Er arbeitete an "Betrachtungen" über die Einsamkeit. In der
Korrespondenz mit ihm zeigt sich Wieland weit interessanter als in seinen
Dichtungen.

"Ich bin zur Poesie nicht geschickt", schreibt Zimmermann, "und
werde der Welt niemals als Dichter bekannt werden; aber meine eigne Seele
würde ich hassen, wenn sie nicht eine rechte Dichterseele wäre. Von früher
Jugend an habe ich mit entzückenden Schauder wie ein neues Leben empfunden
wenn die Schönheit mir entgegentrat." -- "In dieser Reizbarkeit der Seele
liegt die Quelle der größten Laster und der schönsten Tugenden; sie ist der
eigentliche Beweis für die Unsterblichen."

Die beiden Freunde hatten vor, eine Geschichte der Liebe und Zärtlichkeit
zu schreiben; sie studirten zu dem Zweck die Biographien aller schönen Seelen.
Einmal kam Zimmermann auf den ketzerischen Einfall, die heilige Therese
mit Ninon de l'Enclos zu vergleichen.

"Ich liebe", schreibt ihm Wieland, "mehr die Aussichten in ein andres
als in dieses Leben; ich bin hier nur xar äsvoir, nicht xn,r Wolin-Mon!" --
..Der unfehlbare Weg, zur Glückseligkeit zu gelangen, ,ist der Mysticismus
welcher ohne eine gänzliche Verleugnung aller irdischen Dinge nicht bestehen
kann." -- "Glauben Sie mir, mein Herz mit all seinen Fehlern ist noch das
Beste an mir. Was Sie mein Genie heißen, sind sehr reizbare Fibern und
eine daraus entspringende Lebhaftigkeit der Empfindung und Imagination,
Neigung zum Wunderbaren, zum Ausschweifenden und dergleichen Zeug."

Sehr betroffen wurde Wieland bald darauf durch die Aeußerung einer
Berliner Schrift: "Wieland's Muse ist ein junges Mädchen, das die Bet¬
schwester spielen will: wie die Bodmerische, die betagte Matrone, die beständig
von Kasteiung des Fleisches redet und auf die verderbte Welt schilt, weil die
Welt sie vergessen hat. Der alten Wittwe zu gefallen, hüllt Jene sich in ein


Grenzboten II. 1378. 4

merksam, die mitunter freilich im sinnlichen Ausdruck etwas über die Grenze
gingen.

Der wichtigste Verkehr für Wieland wurde Dr. Zimmermann (26 I.),
der unter Haller in Göttingen studirt hatte und nun Physikus in einer Berner
Landstadt war. — Eine lebhafte Einbildungskraft, die es nie zum Schaffen
brachte; sehr feine Empfindungen und rasche Gedanken; ein heftiger Trieb nach
allseitiger Erkenntniß, durch eine umfassende aber ziemlich wüste Lektüre ge¬
nährt; ein krankhafter Ehrgeiz, durch Ueberspannung des Nervensystems ge¬
schärft; fortwährender Wechsel zwischen Selbstüberschätzung und Kleinmuth;
peinliche Empfindlichkeit für alle kleinen Bitterkeiten des Lebens; eine Hypo¬
chondrie, die sich oft zum Menschenhaß steigerte. Er stand gleichmäßig unter
dem Bann von Klopstock und Rousseau, und wußte Shakespeare vollkommen
zu würdigen. Er arbeitete an „Betrachtungen" über die Einsamkeit. In der
Korrespondenz mit ihm zeigt sich Wieland weit interessanter als in seinen
Dichtungen.

„Ich bin zur Poesie nicht geschickt", schreibt Zimmermann, „und
werde der Welt niemals als Dichter bekannt werden; aber meine eigne Seele
würde ich hassen, wenn sie nicht eine rechte Dichterseele wäre. Von früher
Jugend an habe ich mit entzückenden Schauder wie ein neues Leben empfunden
wenn die Schönheit mir entgegentrat." — „In dieser Reizbarkeit der Seele
liegt die Quelle der größten Laster und der schönsten Tugenden; sie ist der
eigentliche Beweis für die Unsterblichen."

Die beiden Freunde hatten vor, eine Geschichte der Liebe und Zärtlichkeit
zu schreiben; sie studirten zu dem Zweck die Biographien aller schönen Seelen.
Einmal kam Zimmermann auf den ketzerischen Einfall, die heilige Therese
mit Ninon de l'Enclos zu vergleichen.

„Ich liebe", schreibt ihm Wieland, „mehr die Aussichten in ein andres
als in dieses Leben; ich bin hier nur xar äsvoir, nicht xn,r Wolin-Mon!" —
..Der unfehlbare Weg, zur Glückseligkeit zu gelangen, ,ist der Mysticismus
welcher ohne eine gänzliche Verleugnung aller irdischen Dinge nicht bestehen
kann." — „Glauben Sie mir, mein Herz mit all seinen Fehlern ist noch das
Beste an mir. Was Sie mein Genie heißen, sind sehr reizbare Fibern und
eine daraus entspringende Lebhaftigkeit der Empfindung und Imagination,
Neigung zum Wunderbaren, zum Ausschweifenden und dergleichen Zeug."

Sehr betroffen wurde Wieland bald darauf durch die Aeußerung einer
Berliner Schrift: „Wieland's Muse ist ein junges Mädchen, das die Bet¬
schwester spielen will: wie die Bodmerische, die betagte Matrone, die beständig
von Kasteiung des Fleisches redet und auf die verderbte Welt schilt, weil die
Welt sie vergessen hat. Der alten Wittwe zu gefallen, hüllt Jene sich in ein


Grenzboten II. 1378. 4
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[0029] merksam, die mitunter freilich im sinnlichen Ausdruck etwas über die Grenze gingen. Der wichtigste Verkehr für Wieland wurde Dr. Zimmermann (26 I.), der unter Haller in Göttingen studirt hatte und nun Physikus in einer Berner Landstadt war. — Eine lebhafte Einbildungskraft, die es nie zum Schaffen brachte; sehr feine Empfindungen und rasche Gedanken; ein heftiger Trieb nach allseitiger Erkenntniß, durch eine umfassende aber ziemlich wüste Lektüre ge¬ nährt; ein krankhafter Ehrgeiz, durch Ueberspannung des Nervensystems ge¬ schärft; fortwährender Wechsel zwischen Selbstüberschätzung und Kleinmuth; peinliche Empfindlichkeit für alle kleinen Bitterkeiten des Lebens; eine Hypo¬ chondrie, die sich oft zum Menschenhaß steigerte. Er stand gleichmäßig unter dem Bann von Klopstock und Rousseau, und wußte Shakespeare vollkommen zu würdigen. Er arbeitete an „Betrachtungen" über die Einsamkeit. In der Korrespondenz mit ihm zeigt sich Wieland weit interessanter als in seinen Dichtungen. „Ich bin zur Poesie nicht geschickt", schreibt Zimmermann, „und werde der Welt niemals als Dichter bekannt werden; aber meine eigne Seele würde ich hassen, wenn sie nicht eine rechte Dichterseele wäre. Von früher Jugend an habe ich mit entzückenden Schauder wie ein neues Leben empfunden wenn die Schönheit mir entgegentrat." — „In dieser Reizbarkeit der Seele liegt die Quelle der größten Laster und der schönsten Tugenden; sie ist der eigentliche Beweis für die Unsterblichen." Die beiden Freunde hatten vor, eine Geschichte der Liebe und Zärtlichkeit zu schreiben; sie studirten zu dem Zweck die Biographien aller schönen Seelen. Einmal kam Zimmermann auf den ketzerischen Einfall, die heilige Therese mit Ninon de l'Enclos zu vergleichen. „Ich liebe", schreibt ihm Wieland, „mehr die Aussichten in ein andres als in dieses Leben; ich bin hier nur xar äsvoir, nicht xn,r Wolin-Mon!" — ..Der unfehlbare Weg, zur Glückseligkeit zu gelangen, ,ist der Mysticismus welcher ohne eine gänzliche Verleugnung aller irdischen Dinge nicht bestehen kann." — „Glauben Sie mir, mein Herz mit all seinen Fehlern ist noch das Beste an mir. Was Sie mein Genie heißen, sind sehr reizbare Fibern und eine daraus entspringende Lebhaftigkeit der Empfindung und Imagination, Neigung zum Wunderbaren, zum Ausschweifenden und dergleichen Zeug." Sehr betroffen wurde Wieland bald darauf durch die Aeußerung einer Berliner Schrift: „Wieland's Muse ist ein junges Mädchen, das die Bet¬ schwester spielen will: wie die Bodmerische, die betagte Matrone, die beständig von Kasteiung des Fleisches redet und auf die verderbte Welt schilt, weil die Welt sie vergessen hat. Der alten Wittwe zu gefallen, hüllt Jene sich in ein Grenzboten II. 1378. 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/29>, abgerufen am 28.12.2024.