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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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ist das ganze Faubourg Se. Germain xassö. Auch in diese aristokratische Ab¬
geschiedenheit dringt die brntnle Spitzhacke des Demvlisseurs.

"Das Quartier Ladin", das der Verfasser zunächst betrachtet, und das uns
aus den Schilderungen älterer Reisender und Romanciers so bekannt war, wie
kaum irgend ein anderes Viertel von Paris, ist dagegen der rücksichtslosen
Gleichmacherei der Gegenwart bereits erlegen. Die alten Gassen und die alten
Häuser sind verschwunden; die gewundene schattige Rue Lccharpe ist zum breiten
stolzen Boulevard Se. Michel geworden, ein ganzes Labyrinth erinnernngs-
reicher Gäßchen und Plätze hat dem Boulevard Se. Germain Platz machen
müssen, der mitten in das Herz des alten Quartiers eingedrungen ist, und an
die Stelle der wunderlichen Häuser aus dem Jahrhunderte des "großen Königs"
sind neue Prachtbauten von sechs und sieben Stockwerken getreten, in denen
die Zimmerchen klein und die Miethpreise groß sind. "Die größere und schmerzlichere
Veränderung aber haben die Bewohner des Quartiers erlitten. Der Student
von heute tritt nicht in die Fußtapfen seines Vorgängers, dessen einziger Stolz
seine Geistesfreiheit, dessen größter Reichthum seine Jugend und dessen schönstes
Vorrecht Idealismus und Illusionen waren. Der Student von heute ist vor¬
nehm geworden, der Rost der Blasirtheit hat die spiegelnde Fläche seiner Seele
angenagt; er ist zu zwanzig Jahren in all seinen Gefühlen so alt und ver¬
welkt und verstaubt, als hätte er schon eine vierzigjährige Wanderung durch
die Wüste des Lebens hinter sich. Er ahmt die abgeschmackte Haartracht
Coponl's und die affektirte, zungen- und lippenfaule Sprachweise der Gom-
meux uach nud ist selig, wenn mau ihn für den ersten besten gehirnerweichten
Popol von Kaffee Tvrtoni hält." Selbstverständlich hat auch das alte, leidlich
naive Verhältniß zwischen Student und Grisette längst aufgehört. An die
Stelle der Letzteren ist die gemeine Coeotte getreten. Es riecht nun auch im
Quartier latin nach Fäulniß wie in der Gegend der Maison Doröe. Die
Coeotte verachtet die Liebe und macht sich über die Poesie lustig; sie singt keine
Beranger'schen Lieder und pflegt keine Nelkenstöcklein; sie blickt mit unsagbarer
GeriugschätzWg ans eine Arbeiterin hinab und rühmt sich kein anderes Geschüft
zu verstehen, als thörichte junge Leute rasch und gründlich an Seele und Leib
zu ruiniren? Kurz: "das echte gute alte Quartier latin ist ein Ding der
Vergangenheit und was die Zeit an seine Stelle gesetzt hat, läßt uns sein
Verschwinden nur um so tiefer beklagen."

Es liegt nahe, daß der Verfasser nach der Stadt der alten Pariser Studenten die
Stadt der Pariser Arbeiter, "Belleville", einer näheren Betrachtung unterzieht,
da Studenten und Arbeiter so oft zusammen ans den Barrikaden gestanden
und gefallen sind. Auch hier räumt der Verfasser mit einer ganzen Anzahl
sentimentaler Illusionen auf. Seine Schilderung des Aeußeren von "Belle-


ist das ganze Faubourg Se. Germain xassö. Auch in diese aristokratische Ab¬
geschiedenheit dringt die brntnle Spitzhacke des Demvlisseurs.

„Das Quartier Ladin", das der Verfasser zunächst betrachtet, und das uns
aus den Schilderungen älterer Reisender und Romanciers so bekannt war, wie
kaum irgend ein anderes Viertel von Paris, ist dagegen der rücksichtslosen
Gleichmacherei der Gegenwart bereits erlegen. Die alten Gassen und die alten
Häuser sind verschwunden; die gewundene schattige Rue Lccharpe ist zum breiten
stolzen Boulevard Se. Michel geworden, ein ganzes Labyrinth erinnernngs-
reicher Gäßchen und Plätze hat dem Boulevard Se. Germain Platz machen
müssen, der mitten in das Herz des alten Quartiers eingedrungen ist, und an
die Stelle der wunderlichen Häuser aus dem Jahrhunderte des „großen Königs"
sind neue Prachtbauten von sechs und sieben Stockwerken getreten, in denen
die Zimmerchen klein und die Miethpreise groß sind. „Die größere und schmerzlichere
Veränderung aber haben die Bewohner des Quartiers erlitten. Der Student
von heute tritt nicht in die Fußtapfen seines Vorgängers, dessen einziger Stolz
seine Geistesfreiheit, dessen größter Reichthum seine Jugend und dessen schönstes
Vorrecht Idealismus und Illusionen waren. Der Student von heute ist vor¬
nehm geworden, der Rost der Blasirtheit hat die spiegelnde Fläche seiner Seele
angenagt; er ist zu zwanzig Jahren in all seinen Gefühlen so alt und ver¬
welkt und verstaubt, als hätte er schon eine vierzigjährige Wanderung durch
die Wüste des Lebens hinter sich. Er ahmt die abgeschmackte Haartracht
Coponl's und die affektirte, zungen- und lippenfaule Sprachweise der Gom-
meux uach nud ist selig, wenn mau ihn für den ersten besten gehirnerweichten
Popol von Kaffee Tvrtoni hält." Selbstverständlich hat auch das alte, leidlich
naive Verhältniß zwischen Student und Grisette längst aufgehört. An die
Stelle der Letzteren ist die gemeine Coeotte getreten. Es riecht nun auch im
Quartier latin nach Fäulniß wie in der Gegend der Maison Doröe. Die
Coeotte verachtet die Liebe und macht sich über die Poesie lustig; sie singt keine
Beranger'schen Lieder und pflegt keine Nelkenstöcklein; sie blickt mit unsagbarer
GeriugschätzWg ans eine Arbeiterin hinab und rühmt sich kein anderes Geschüft
zu verstehen, als thörichte junge Leute rasch und gründlich an Seele und Leib
zu ruiniren? Kurz: „das echte gute alte Quartier latin ist ein Ding der
Vergangenheit und was die Zeit an seine Stelle gesetzt hat, läßt uns sein
Verschwinden nur um so tiefer beklagen."

Es liegt nahe, daß der Verfasser nach der Stadt der alten Pariser Studenten die
Stadt der Pariser Arbeiter, „Belleville", einer näheren Betrachtung unterzieht,
da Studenten und Arbeiter so oft zusammen ans den Barrikaden gestanden
und gefallen sind. Auch hier räumt der Verfasser mit einer ganzen Anzahl
sentimentaler Illusionen auf. Seine Schilderung des Aeußeren von „Belle-


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[0268] ist das ganze Faubourg Se. Germain xassö. Auch in diese aristokratische Ab¬ geschiedenheit dringt die brntnle Spitzhacke des Demvlisseurs. „Das Quartier Ladin", das der Verfasser zunächst betrachtet, und das uns aus den Schilderungen älterer Reisender und Romanciers so bekannt war, wie kaum irgend ein anderes Viertel von Paris, ist dagegen der rücksichtslosen Gleichmacherei der Gegenwart bereits erlegen. Die alten Gassen und die alten Häuser sind verschwunden; die gewundene schattige Rue Lccharpe ist zum breiten stolzen Boulevard Se. Michel geworden, ein ganzes Labyrinth erinnernngs- reicher Gäßchen und Plätze hat dem Boulevard Se. Germain Platz machen müssen, der mitten in das Herz des alten Quartiers eingedrungen ist, und an die Stelle der wunderlichen Häuser aus dem Jahrhunderte des „großen Königs" sind neue Prachtbauten von sechs und sieben Stockwerken getreten, in denen die Zimmerchen klein und die Miethpreise groß sind. „Die größere und schmerzlichere Veränderung aber haben die Bewohner des Quartiers erlitten. Der Student von heute tritt nicht in die Fußtapfen seines Vorgängers, dessen einziger Stolz seine Geistesfreiheit, dessen größter Reichthum seine Jugend und dessen schönstes Vorrecht Idealismus und Illusionen waren. Der Student von heute ist vor¬ nehm geworden, der Rost der Blasirtheit hat die spiegelnde Fläche seiner Seele angenagt; er ist zu zwanzig Jahren in all seinen Gefühlen so alt und ver¬ welkt und verstaubt, als hätte er schon eine vierzigjährige Wanderung durch die Wüste des Lebens hinter sich. Er ahmt die abgeschmackte Haartracht Coponl's und die affektirte, zungen- und lippenfaule Sprachweise der Gom- meux uach nud ist selig, wenn mau ihn für den ersten besten gehirnerweichten Popol von Kaffee Tvrtoni hält." Selbstverständlich hat auch das alte, leidlich naive Verhältniß zwischen Student und Grisette längst aufgehört. An die Stelle der Letzteren ist die gemeine Coeotte getreten. Es riecht nun auch im Quartier latin nach Fäulniß wie in der Gegend der Maison Doröe. Die Coeotte verachtet die Liebe und macht sich über die Poesie lustig; sie singt keine Beranger'schen Lieder und pflegt keine Nelkenstöcklein; sie blickt mit unsagbarer GeriugschätzWg ans eine Arbeiterin hinab und rühmt sich kein anderes Geschüft zu verstehen, als thörichte junge Leute rasch und gründlich an Seele und Leib zu ruiniren? Kurz: „das echte gute alte Quartier latin ist ein Ding der Vergangenheit und was die Zeit an seine Stelle gesetzt hat, läßt uns sein Verschwinden nur um so tiefer beklagen." Es liegt nahe, daß der Verfasser nach der Stadt der alten Pariser Studenten die Stadt der Pariser Arbeiter, „Belleville", einer näheren Betrachtung unterzieht, da Studenten und Arbeiter so oft zusammen ans den Barrikaden gestanden und gefallen sind. Auch hier räumt der Verfasser mit einer ganzen Anzahl sentimentaler Illusionen auf. Seine Schilderung des Aeußeren von „Belle-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/268>, abgerufen am 27.07.2024.