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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Schlafzimmer von liliputanischen Dimensionen; meist kommt dazu noch ein
bienenzellenartiger Keller, in dem einige Stücke Kohle und ein paar Flaschen
Wein Unterkommen finden. Die Höhe der Wohnräume gestattet sehr häufig,
mit dem erhobenen Arm die Decke zu erreichen. Fenster und Thüren schließen
schlecht und die Thüren sind so schmal, daß größere Möbels von der Straße
aus durch die Fenster eingehobeu werden müssen; Doppelfenster sind unbe¬
kannt. Kein Wunder, daß der Pariser kein trauliches Verhältniß mit seinen
vier Wänden unterhalten kann. Selbst sein Bett ist durchschnittlich schlecht,
und mit dem Inhalt, den die Schränke der Frauen offenbnreu, ist es meist,
nach deutschen Begriffen wenigstens, sehr übel bestellt. Nur die neueste Mode
ist hier zu sehen. Sie wechselt so rasch, daß eine größere Anhäufung von
Kleidern, Wäschstücken !e. selbst beim Reichen eine Thorheit wäre. Dagegen
ist hier ein Berg von Tviletteartikeln zu sehen. Unbeholfen und unpraktisch
ohne Gleichen ist die Pariserin der Mittelklasse in der Küche. Der Pariser
Bourgeois nährt sich schlecht und unvernünftig. Fleisch nimmt er nur in ganz
ungenügender Menge zu sich; mit dünnen Suppen, schlechtem Brod, salatför-
migen Kräutern, Käse und Hülsenfrüchten stopft er sich voll. Dazu kommt
der Genuß einer schrecklichen Menge alkoholhaltiger Flüssigkeiten aller Art.
Davon wird später noch eingehender die Rede sein. Das ist das Pariser Leben
am häuslichen Heerde der Mittelklassen!

Das merkwürdigste Gegenbild zu diesen Bürgerwohnungen und Straßen
bietet das "Faubourg Se. Germain", der Sitz der alten legitimistisch gesinnten
Aristokratie Frankreichs. Die geschmackvolle Feinheit, die wunderbare Stille,
die geflissentliche Zurückhaltung dieses Viertels ist wohl selten so reizvoll ge¬
schildert worden, wie von dem Verfasser, ebenso die Eigenart der Bewohner,
denen er nur eine allzugroße, geschichtlich nur ungenügend beglaubigte Abstinenz
von den Staatsinteressen und Staatsgeschäften der Nation seit der Vertreibung
Karl's X. beimißt. Keineswegs blos der Herzog von Gramont hat diese Schranke,
welche der legitimistische Geburtsadel sich selbst gezogen, durchbrochen. Doch im
Ganzen hat der Verfasser ja recht. Wenn der Bourbonismus nicht so völlig
und so unglaublich einfältig wäre, man könnte nur mit vollster Achtung und
jedenfalls nicht ohne Rührung wahrnehmen, mit welch treuem Glauben diese
feinfühligen Menschen aus die Wiederkehr der D.o> vertrauen. Inmitten der
pietätlosen und geschichtslosen Gesinnung der ganzen übrigen Pariser Gesellschaft,
bietet dieses Häuflein edler Familien ein Seitenstück zu jenen Franzosen der
westlichen Departements, die mitten im ehnischen Rausche der Julitage den
Wagen des vertriebenen Karl X. mit Küssen und Blumen umdrängten, um
als letztes Angedenken an die Königsfamilie ein Handknßchen von den un¬
schuldigen kleinen Königskiudern zurückzuempfangen. Doch wie diese Gesinnung


Schlafzimmer von liliputanischen Dimensionen; meist kommt dazu noch ein
bienenzellenartiger Keller, in dem einige Stücke Kohle und ein paar Flaschen
Wein Unterkommen finden. Die Höhe der Wohnräume gestattet sehr häufig,
mit dem erhobenen Arm die Decke zu erreichen. Fenster und Thüren schließen
schlecht und die Thüren sind so schmal, daß größere Möbels von der Straße
aus durch die Fenster eingehobeu werden müssen; Doppelfenster sind unbe¬
kannt. Kein Wunder, daß der Pariser kein trauliches Verhältniß mit seinen
vier Wänden unterhalten kann. Selbst sein Bett ist durchschnittlich schlecht,
und mit dem Inhalt, den die Schränke der Frauen offenbnreu, ist es meist,
nach deutschen Begriffen wenigstens, sehr übel bestellt. Nur die neueste Mode
ist hier zu sehen. Sie wechselt so rasch, daß eine größere Anhäufung von
Kleidern, Wäschstücken !e. selbst beim Reichen eine Thorheit wäre. Dagegen
ist hier ein Berg von Tviletteartikeln zu sehen. Unbeholfen und unpraktisch
ohne Gleichen ist die Pariserin der Mittelklasse in der Küche. Der Pariser
Bourgeois nährt sich schlecht und unvernünftig. Fleisch nimmt er nur in ganz
ungenügender Menge zu sich; mit dünnen Suppen, schlechtem Brod, salatför-
migen Kräutern, Käse und Hülsenfrüchten stopft er sich voll. Dazu kommt
der Genuß einer schrecklichen Menge alkoholhaltiger Flüssigkeiten aller Art.
Davon wird später noch eingehender die Rede sein. Das ist das Pariser Leben
am häuslichen Heerde der Mittelklassen!

Das merkwürdigste Gegenbild zu diesen Bürgerwohnungen und Straßen
bietet das „Faubourg Se. Germain", der Sitz der alten legitimistisch gesinnten
Aristokratie Frankreichs. Die geschmackvolle Feinheit, die wunderbare Stille,
die geflissentliche Zurückhaltung dieses Viertels ist wohl selten so reizvoll ge¬
schildert worden, wie von dem Verfasser, ebenso die Eigenart der Bewohner,
denen er nur eine allzugroße, geschichtlich nur ungenügend beglaubigte Abstinenz
von den Staatsinteressen und Staatsgeschäften der Nation seit der Vertreibung
Karl's X. beimißt. Keineswegs blos der Herzog von Gramont hat diese Schranke,
welche der legitimistische Geburtsadel sich selbst gezogen, durchbrochen. Doch im
Ganzen hat der Verfasser ja recht. Wenn der Bourbonismus nicht so völlig
und so unglaublich einfältig wäre, man könnte nur mit vollster Achtung und
jedenfalls nicht ohne Rührung wahrnehmen, mit welch treuem Glauben diese
feinfühligen Menschen aus die Wiederkehr der D.o> vertrauen. Inmitten der
pietätlosen und geschichtslosen Gesinnung der ganzen übrigen Pariser Gesellschaft,
bietet dieses Häuflein edler Familien ein Seitenstück zu jenen Franzosen der
westlichen Departements, die mitten im ehnischen Rausche der Julitage den
Wagen des vertriebenen Karl X. mit Küssen und Blumen umdrängten, um
als letztes Angedenken an die Königsfamilie ein Handknßchen von den un¬
schuldigen kleinen Königskiudern zurückzuempfangen. Doch wie diese Gesinnung


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[0267] Schlafzimmer von liliputanischen Dimensionen; meist kommt dazu noch ein bienenzellenartiger Keller, in dem einige Stücke Kohle und ein paar Flaschen Wein Unterkommen finden. Die Höhe der Wohnräume gestattet sehr häufig, mit dem erhobenen Arm die Decke zu erreichen. Fenster und Thüren schließen schlecht und die Thüren sind so schmal, daß größere Möbels von der Straße aus durch die Fenster eingehobeu werden müssen; Doppelfenster sind unbe¬ kannt. Kein Wunder, daß der Pariser kein trauliches Verhältniß mit seinen vier Wänden unterhalten kann. Selbst sein Bett ist durchschnittlich schlecht, und mit dem Inhalt, den die Schränke der Frauen offenbnreu, ist es meist, nach deutschen Begriffen wenigstens, sehr übel bestellt. Nur die neueste Mode ist hier zu sehen. Sie wechselt so rasch, daß eine größere Anhäufung von Kleidern, Wäschstücken !e. selbst beim Reichen eine Thorheit wäre. Dagegen ist hier ein Berg von Tviletteartikeln zu sehen. Unbeholfen und unpraktisch ohne Gleichen ist die Pariserin der Mittelklasse in der Küche. Der Pariser Bourgeois nährt sich schlecht und unvernünftig. Fleisch nimmt er nur in ganz ungenügender Menge zu sich; mit dünnen Suppen, schlechtem Brod, salatför- migen Kräutern, Käse und Hülsenfrüchten stopft er sich voll. Dazu kommt der Genuß einer schrecklichen Menge alkoholhaltiger Flüssigkeiten aller Art. Davon wird später noch eingehender die Rede sein. Das ist das Pariser Leben am häuslichen Heerde der Mittelklassen! Das merkwürdigste Gegenbild zu diesen Bürgerwohnungen und Straßen bietet das „Faubourg Se. Germain", der Sitz der alten legitimistisch gesinnten Aristokratie Frankreichs. Die geschmackvolle Feinheit, die wunderbare Stille, die geflissentliche Zurückhaltung dieses Viertels ist wohl selten so reizvoll ge¬ schildert worden, wie von dem Verfasser, ebenso die Eigenart der Bewohner, denen er nur eine allzugroße, geschichtlich nur ungenügend beglaubigte Abstinenz von den Staatsinteressen und Staatsgeschäften der Nation seit der Vertreibung Karl's X. beimißt. Keineswegs blos der Herzog von Gramont hat diese Schranke, welche der legitimistische Geburtsadel sich selbst gezogen, durchbrochen. Doch im Ganzen hat der Verfasser ja recht. Wenn der Bourbonismus nicht so völlig und so unglaublich einfältig wäre, man könnte nur mit vollster Achtung und jedenfalls nicht ohne Rührung wahrnehmen, mit welch treuem Glauben diese feinfühligen Menschen aus die Wiederkehr der D.o> vertrauen. Inmitten der pietätlosen und geschichtslosen Gesinnung der ganzen übrigen Pariser Gesellschaft, bietet dieses Häuflein edler Familien ein Seitenstück zu jenen Franzosen der westlichen Departements, die mitten im ehnischen Rausche der Julitage den Wagen des vertriebenen Karl X. mit Küssen und Blumen umdrängten, um als letztes Angedenken an die Königsfamilie ein Handknßchen von den un¬ schuldigen kleinen Königskiudern zurückzuempfangen. Doch wie diese Gesinnung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/267>, abgerufen am 01.09.2024.