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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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schweife glücklich zu machen. Auf der andern Seite dient ein sehr verfeinerter
Geschmack zwar dazu, einer ungestümen Neigung die Wildheit zu benehmen,
und, indem er solche nur auf sehr wenig Gegenstände einschränkt, sie sittsam
und anständig zu machen; allein dieser verfehlt gemeiniglich die große Endab¬
sicht der Natur, und da er mehr fordert oder erwartet, als diese gemeiniglich
leistet, pflegt er die Person von so delikater Empfindung selten glücklich zu
machen. Sie wird grüblerisch, indem sie eigentlich auf keinen bestimmten
Gegenstand geht, sondern nur mit einem beschäftigt ist, den die verliebte Nei¬
gung sich in Gedanken schafft und mit allen edlen und schonen Eigenschaften
ausziert, welche die Natur selten in einem Menschen vereinigt. Man muß
keine sehr hohen Ansprüche auf die Glückseligkeiten des Lebens und die Voll¬
kommenheiten der Menschen machen. So reizend auch die Eindrücke des zärt¬
lichen Gefühls sein mögen, so hat man doch Ursache, in der Verfeinerung des¬
selben behutsam zu sein, wofern man sich nicht durch übergroße Reizbarkeit
viel Unmuth erklügeln will."

Bodmer, durch den Vorfall mit Klopstock gewarnt, ging mit einiger
Scheu an die neue Freundschaft. "Mir scheint", schrieb ihm ein Freund,
"Wieland von sehr verliebter Komplexion; seine Ausdrücke find in Betreff
der Küsse zu saftig." Auch Bodmer fand den Lobgesang auf die Liebe etwas
fanatisch: "die Liebe ist da ein Taumel, ein Vergessen; ein Verlieren seiner
selbst, ein Quietismus in Wollust -- übrigens ist das Ding ganz poetisch." --
Indeß er brauchte einen neuen Jünger; Wieland drückte sich äußerst ehrer¬
bietig aus und war begeistert für den Noah: "kurz", schrieb Bodmer, "wenn
mich diese neue Hoffnung täuscht, so gebe ich es mit der menschlichen Aufrich¬
tigkeit auf."

"Sie werden Wieland glücklich schätzen, daß er, erst 19 Jahr alt, schon
eine Diotima hat, blühend wie sinnliche Auen, wie junge Seraphim zärtlich.
Wenn ich gedenke, daß diese Dinger, diese Dorisse, einen so starken Einfluß
auf das Gemüth der Jünglinge haben, sie tugendhaft, freundschaftlich, fromm
zu machen, so wünsche ich, daß ein Jeder die seine gefunden hätte. Aber wenn
ich ferner gedenke, daß der göttliche Charakter der Dorisse im Ehestand so gern
verschwindet, so darf ich kaum wünschen, daß jeder Dämon sich mit feiner
Doris vermählte."

Wieland kam 15. Oktober bei Bodmer an, dessen Erwartungen er
völlig entsprach: der junge Poet ordnete sich ihm ganz nnter, er nahte sich ihm
mit demüthigem Entzücken, ließ die jungen Leute links liegen, führte nur ernst¬
hafte Gespräche, lebte müßig und saß den ganzen Tag am Schreibtisch. Der
alte Kritiker fand in Wieland eine patriarchalische Seele, den Tiefsinn eines
Leibnitz u. f. w.


schweife glücklich zu machen. Auf der andern Seite dient ein sehr verfeinerter
Geschmack zwar dazu, einer ungestümen Neigung die Wildheit zu benehmen,
und, indem er solche nur auf sehr wenig Gegenstände einschränkt, sie sittsam
und anständig zu machen; allein dieser verfehlt gemeiniglich die große Endab¬
sicht der Natur, und da er mehr fordert oder erwartet, als diese gemeiniglich
leistet, pflegt er die Person von so delikater Empfindung selten glücklich zu
machen. Sie wird grüblerisch, indem sie eigentlich auf keinen bestimmten
Gegenstand geht, sondern nur mit einem beschäftigt ist, den die verliebte Nei¬
gung sich in Gedanken schafft und mit allen edlen und schonen Eigenschaften
ausziert, welche die Natur selten in einem Menschen vereinigt. Man muß
keine sehr hohen Ansprüche auf die Glückseligkeiten des Lebens und die Voll¬
kommenheiten der Menschen machen. So reizend auch die Eindrücke des zärt¬
lichen Gefühls sein mögen, so hat man doch Ursache, in der Verfeinerung des¬
selben behutsam zu sein, wofern man sich nicht durch übergroße Reizbarkeit
viel Unmuth erklügeln will."

Bodmer, durch den Vorfall mit Klopstock gewarnt, ging mit einiger
Scheu an die neue Freundschaft. „Mir scheint", schrieb ihm ein Freund,
„Wieland von sehr verliebter Komplexion; seine Ausdrücke find in Betreff
der Küsse zu saftig." Auch Bodmer fand den Lobgesang auf die Liebe etwas
fanatisch: „die Liebe ist da ein Taumel, ein Vergessen; ein Verlieren seiner
selbst, ein Quietismus in Wollust — übrigens ist das Ding ganz poetisch." —
Indeß er brauchte einen neuen Jünger; Wieland drückte sich äußerst ehrer¬
bietig aus und war begeistert für den Noah: „kurz", schrieb Bodmer, „wenn
mich diese neue Hoffnung täuscht, so gebe ich es mit der menschlichen Aufrich¬
tigkeit auf."

„Sie werden Wieland glücklich schätzen, daß er, erst 19 Jahr alt, schon
eine Diotima hat, blühend wie sinnliche Auen, wie junge Seraphim zärtlich.
Wenn ich gedenke, daß diese Dinger, diese Dorisse, einen so starken Einfluß
auf das Gemüth der Jünglinge haben, sie tugendhaft, freundschaftlich, fromm
zu machen, so wünsche ich, daß ein Jeder die seine gefunden hätte. Aber wenn
ich ferner gedenke, daß der göttliche Charakter der Dorisse im Ehestand so gern
verschwindet, so darf ich kaum wünschen, daß jeder Dämon sich mit feiner
Doris vermählte."

Wieland kam 15. Oktober bei Bodmer an, dessen Erwartungen er
völlig entsprach: der junge Poet ordnete sich ihm ganz nnter, er nahte sich ihm
mit demüthigem Entzücken, ließ die jungen Leute links liegen, führte nur ernst¬
hafte Gespräche, lebte müßig und saß den ganzen Tag am Schreibtisch. Der
alte Kritiker fand in Wieland eine patriarchalische Seele, den Tiefsinn eines
Leibnitz u. f. w.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/22>, abgerufen am 27.07.2024.