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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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unmittelbare Kraft offenbart, welche den Gebildeten oft beschämt. "Dies meinte
Goethe, wenn er mit seiner liebevollen Milde so oft wiederholte: die wir die
niederste Klasse nennen, sind für Gott gewiß die höchste Menschenklasse."

Es kann freilich von einem Manne, der sich fortwährend vorbereitet halten
muß, gleichzeitig über sechszig Stoffe der Kulturgeschichte und "Staatswirth¬
schaft" Vortrüge vor dem bildnngsbedürftigen Volke zu halten, nicht verlangt
werden, daß er so eingehende Ausführungen eines unverstandenen Gegners
nachlese wie die oben citirten, namentlich wenn sie dem Kulturkreis des
Jllustrirten Sommer'schen Conversationslexieons so fern liegen. Aber wenn
dieser Herr über diese Schrift des Gegners zu Gericht sitzt, könnte beinahe
erwartet werden, daß er sie gelesen hätte. Und da er ferner auf S. 9 be¬
hauptet "die Aufsätze Treitschke's gegen Schmoller" gelesen zu haben -- er
scheint den einen abermals mit Recht mindestens doppelt zu zählen -- so
hätte er auch hier mühelos finden können, wie schwer er irrt, wenn er gegenüber
dem hohen ethischen Standpunkt, den Treitschke allen Klassen der Gesellschaft
gegenüber einnimmt, sich versteigt zu der Insinuation, Treitschke habe "daraus allein,
daß der deutsche Arbeiter eine erhebliche Besserung seiner materiellen Lage eifrigst
anstrebe, ihnen einen Vorwurf gemacht. Was sagt denu Treitschke hier: "Der Wett¬
bewerb Aller um die Güter der Gesittung, deren volles Maß immer nur
von einer Minderheit erreicht werden kann -- das ist es, was ich unter
vernünftiger Gleichheit verstehe." (Pr. Jahrb. Bd. 35. S. 428), und weiter
(S. 429): "Die Menschen sind gleich, insofern sie Alle gleichen Anspruch
haben auf die höchsten und allgemeinen Güter, welche den Menschen zum
Menschen macheu; nur wo diese allgemeinen Güter Allein zustehen, ist freier
Wettbewerb vorhanden." Also genau dieselbe Meinung, wie die des Herrn
Wvrthmcmn -- nur freilich bei Weitem klarer und eleganter ausgesprochen.

"In derselben psendo-idealistischen Weise speist Treitschke die Beamten
und Lehrer ab, die bei den gegenwärtig (?) rasch steigenden (?) Preisen
mit ihrem kümmerlichen Gehalt nicht ausreichen. Er versichert sie seiner
Achtung." Nach den Erfahrungen, die wir bisher an der Worthmann'schen
Schrift gemacht haben, kann es nicht Wunder nehmen, wenn es uns auch
hier nicht gelingt, die Belegstellen der W.'schen Citate bei Treitschke zu finden.
Herr Wvrthmcmn ist offenbar ein viel zu freier Geist, um sich an den Wort¬
laut zu halten, den der Angegriffene seinen Gedanken gegeben. So finden wir
denn auch hier, bei Vergleichung dessen, was Treitschke gesagt haben soll, mit
dein, was er wirklich gesagt hat (Pr. Jahrb., Band 34, S. 290--292, Zehn
Jahre S. 544--547, Offener Brief an Schmoller Pr. Jahrb., Bd. 35, S.
427--431), daß Herr Wvrthmcmn im Auslegen hübsch munter ist. Treitschke
sagt: "Die Lage der mittleren Beamten und Lehrer ist schlechthin armselig;


Grenzboten II. 1373. 2S

unmittelbare Kraft offenbart, welche den Gebildeten oft beschämt. „Dies meinte
Goethe, wenn er mit seiner liebevollen Milde so oft wiederholte: die wir die
niederste Klasse nennen, sind für Gott gewiß die höchste Menschenklasse."

Es kann freilich von einem Manne, der sich fortwährend vorbereitet halten
muß, gleichzeitig über sechszig Stoffe der Kulturgeschichte und „Staatswirth¬
schaft" Vortrüge vor dem bildnngsbedürftigen Volke zu halten, nicht verlangt
werden, daß er so eingehende Ausführungen eines unverstandenen Gegners
nachlese wie die oben citirten, namentlich wenn sie dem Kulturkreis des
Jllustrirten Sommer'schen Conversationslexieons so fern liegen. Aber wenn
dieser Herr über diese Schrift des Gegners zu Gericht sitzt, könnte beinahe
erwartet werden, daß er sie gelesen hätte. Und da er ferner auf S. 9 be¬
hauptet „die Aufsätze Treitschke's gegen Schmoller" gelesen zu haben — er
scheint den einen abermals mit Recht mindestens doppelt zu zählen — so
hätte er auch hier mühelos finden können, wie schwer er irrt, wenn er gegenüber
dem hohen ethischen Standpunkt, den Treitschke allen Klassen der Gesellschaft
gegenüber einnimmt, sich versteigt zu der Insinuation, Treitschke habe „daraus allein,
daß der deutsche Arbeiter eine erhebliche Besserung seiner materiellen Lage eifrigst
anstrebe, ihnen einen Vorwurf gemacht. Was sagt denu Treitschke hier: „Der Wett¬
bewerb Aller um die Güter der Gesittung, deren volles Maß immer nur
von einer Minderheit erreicht werden kann — das ist es, was ich unter
vernünftiger Gleichheit verstehe." (Pr. Jahrb. Bd. 35. S. 428), und weiter
(S. 429): „Die Menschen sind gleich, insofern sie Alle gleichen Anspruch
haben auf die höchsten und allgemeinen Güter, welche den Menschen zum
Menschen macheu; nur wo diese allgemeinen Güter Allein zustehen, ist freier
Wettbewerb vorhanden." Also genau dieselbe Meinung, wie die des Herrn
Wvrthmcmn — nur freilich bei Weitem klarer und eleganter ausgesprochen.

„In derselben psendo-idealistischen Weise speist Treitschke die Beamten
und Lehrer ab, die bei den gegenwärtig (?) rasch steigenden (?) Preisen
mit ihrem kümmerlichen Gehalt nicht ausreichen. Er versichert sie seiner
Achtung." Nach den Erfahrungen, die wir bisher an der Worthmann'schen
Schrift gemacht haben, kann es nicht Wunder nehmen, wenn es uns auch
hier nicht gelingt, die Belegstellen der W.'schen Citate bei Treitschke zu finden.
Herr Wvrthmcmn ist offenbar ein viel zu freier Geist, um sich an den Wort¬
laut zu halten, den der Angegriffene seinen Gedanken gegeben. So finden wir
denn auch hier, bei Vergleichung dessen, was Treitschke gesagt haben soll, mit
dein, was er wirklich gesagt hat (Pr. Jahrb., Band 34, S. 290—292, Zehn
Jahre S. 544—547, Offener Brief an Schmoller Pr. Jahrb., Bd. 35, S.
427—431), daß Herr Wvrthmcmn im Auslegen hübsch munter ist. Treitschke
sagt: „Die Lage der mittleren Beamten und Lehrer ist schlechthin armselig;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/197>, abgerufen am 01.09.2024.