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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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Lazarus sagt S. 31: "Der Hauptfehler aller älteren Metaphysik bestand
darin, daß man voreilig den allgemeinen Grund aller Erscheinungen, das Wesen
der Dinge und ihrer Kräfte zu erfassen suchte; voreilig, weil bevor man
die Art und den Umfang, die Gleichheit und die Verschiedenheit dieser Erschei¬
nungen selbst erforscht hatte." Diese Voreiligkeit um, sage ich, war nur möglich,
weil in unbewußter Verwechslung von Wort und Sache, oder wie wir mit
Lazarus S. 102 sagen können, weil in "subjektiv gewordener Einheit von Laut
und Ding" man aus subjektiven Apperceptionen oder aus sprachlich abstrakten
Auffassungen der Dinge ihr Wesen konstruirte, nicht aber aus ihrer Wirkungs¬
weise, ihrem Leistungsvermögen. Was ich in jenem Aufsatz die ästhetisirende
Methode der Wissenschaft nannte, das nennt Lazarus voreilige Meta¬
physik. Nur auf Grund subjektiver Apperception der cisthetisirenden Werth¬
schätzung sagte die ältere Metaphysik voreilig: die Materie ist das Rohe,
Schlechte, Nichtseiende, der Geist ist das Reine. Feine, Gute, das Seiende,
u. s. w. Was hat nun solches Reden für einen wissenschaftlichen Werth gegen¬
über der Thatsache, daß die Materie eine Kraft ist, die in unveränderlicher Güte
gemäß dem Gesetz der Gravitation wirkt, während der Geist eine Kraft ist,
die sich zwar als Kraft der Sittlichkeit fühlt und weiß, die aber Güte und
Reinheit verlieren kann, wenn sie aufhört, sich gemäß dem Sittengesetze bethä¬
tigen zu wollen? Diese voreilige Auffassung von Geist und Materie lebt aber
nicht nur, wie Lazarus sagt, in der älteren Metaphysik, sie lebt noch in der
neueren. Sie lebt sogar in der des Materialismus, wenn er sagt: Die feineren
Verbindungen des Gehirns produziren das Denken, diese feinste, höchste Thä¬
tigkeit des Organismus; sie lebt aber auch in jenen Spekulationen, die mit
Hegel in der Natur nur ein Anderssein, ein Entartetsein des Geistes erblicken,
oder die mit Schopenhauer und v. Hartmann in der materiellen Natur das
Treiben eines unbewußten und sogar dummen Willens annehmen.

Diese Voreiligkeit einer von subjektiven Apperceptionen ausgehenden Meta¬
physik will Lazarus vermeiden, und die Art und den Umfang der Erscheinungen
aufsuchend, will er (S. 32) "die Gesetze und Bedingungen des gemeinsamen
Wirkens von Geist und Körper erforschen," unbekümmert vorerst darüber,
..wer oder was der Träger (das Substrat) dieser Wirkungen sein möge." Mit
diesem Thun aber steht Lazarus auf jenem Boden wahrer Wissenschaft, den
auch Virchow in seiner Naturforscher-Rede am 22. Sept. 1877 zu München
forderte. Er sagt (die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat, Berlin
1877) S. 27: "Ich habe immer Werth darauf gelegt, daß man nicht in erster
Linie die Uebergänge des Unorganischen und Organischen aufsuche, sondern
zuerst den Gegensatz fixire, und in diesem Gegensatz seine Studien mache;
und wir müssen die geistigen Vorgänge da fixiren, wo uns wirklich geistige
Erscheinungen entgegentreten. Es ist ganz schön und vortrefflich, wenn Philo-


Lazarus sagt S. 31: „Der Hauptfehler aller älteren Metaphysik bestand
darin, daß man voreilig den allgemeinen Grund aller Erscheinungen, das Wesen
der Dinge und ihrer Kräfte zu erfassen suchte; voreilig, weil bevor man
die Art und den Umfang, die Gleichheit und die Verschiedenheit dieser Erschei¬
nungen selbst erforscht hatte." Diese Voreiligkeit um, sage ich, war nur möglich,
weil in unbewußter Verwechslung von Wort und Sache, oder wie wir mit
Lazarus S. 102 sagen können, weil in „subjektiv gewordener Einheit von Laut
und Ding" man aus subjektiven Apperceptionen oder aus sprachlich abstrakten
Auffassungen der Dinge ihr Wesen konstruirte, nicht aber aus ihrer Wirkungs¬
weise, ihrem Leistungsvermögen. Was ich in jenem Aufsatz die ästhetisirende
Methode der Wissenschaft nannte, das nennt Lazarus voreilige Meta¬
physik. Nur auf Grund subjektiver Apperception der cisthetisirenden Werth¬
schätzung sagte die ältere Metaphysik voreilig: die Materie ist das Rohe,
Schlechte, Nichtseiende, der Geist ist das Reine. Feine, Gute, das Seiende,
u. s. w. Was hat nun solches Reden für einen wissenschaftlichen Werth gegen¬
über der Thatsache, daß die Materie eine Kraft ist, die in unveränderlicher Güte
gemäß dem Gesetz der Gravitation wirkt, während der Geist eine Kraft ist,
die sich zwar als Kraft der Sittlichkeit fühlt und weiß, die aber Güte und
Reinheit verlieren kann, wenn sie aufhört, sich gemäß dem Sittengesetze bethä¬
tigen zu wollen? Diese voreilige Auffassung von Geist und Materie lebt aber
nicht nur, wie Lazarus sagt, in der älteren Metaphysik, sie lebt noch in der
neueren. Sie lebt sogar in der des Materialismus, wenn er sagt: Die feineren
Verbindungen des Gehirns produziren das Denken, diese feinste, höchste Thä¬
tigkeit des Organismus; sie lebt aber auch in jenen Spekulationen, die mit
Hegel in der Natur nur ein Anderssein, ein Entartetsein des Geistes erblicken,
oder die mit Schopenhauer und v. Hartmann in der materiellen Natur das
Treiben eines unbewußten und sogar dummen Willens annehmen.

Diese Voreiligkeit einer von subjektiven Apperceptionen ausgehenden Meta¬
physik will Lazarus vermeiden, und die Art und den Umfang der Erscheinungen
aufsuchend, will er (S. 32) „die Gesetze und Bedingungen des gemeinsamen
Wirkens von Geist und Körper erforschen," unbekümmert vorerst darüber,
..wer oder was der Träger (das Substrat) dieser Wirkungen sein möge." Mit
diesem Thun aber steht Lazarus auf jenem Boden wahrer Wissenschaft, den
auch Virchow in seiner Naturforscher-Rede am 22. Sept. 1877 zu München
forderte. Er sagt (die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat, Berlin
1877) S. 27: „Ich habe immer Werth darauf gelegt, daß man nicht in erster
Linie die Uebergänge des Unorganischen und Organischen aufsuche, sondern
zuerst den Gegensatz fixire, und in diesem Gegensatz seine Studien mache;
und wir müssen die geistigen Vorgänge da fixiren, wo uns wirklich geistige
Erscheinungen entgegentreten. Es ist ganz schön und vortrefflich, wenn Philo-


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[0183] Lazarus sagt S. 31: „Der Hauptfehler aller älteren Metaphysik bestand darin, daß man voreilig den allgemeinen Grund aller Erscheinungen, das Wesen der Dinge und ihrer Kräfte zu erfassen suchte; voreilig, weil bevor man die Art und den Umfang, die Gleichheit und die Verschiedenheit dieser Erschei¬ nungen selbst erforscht hatte." Diese Voreiligkeit um, sage ich, war nur möglich, weil in unbewußter Verwechslung von Wort und Sache, oder wie wir mit Lazarus S. 102 sagen können, weil in „subjektiv gewordener Einheit von Laut und Ding" man aus subjektiven Apperceptionen oder aus sprachlich abstrakten Auffassungen der Dinge ihr Wesen konstruirte, nicht aber aus ihrer Wirkungs¬ weise, ihrem Leistungsvermögen. Was ich in jenem Aufsatz die ästhetisirende Methode der Wissenschaft nannte, das nennt Lazarus voreilige Meta¬ physik. Nur auf Grund subjektiver Apperception der cisthetisirenden Werth¬ schätzung sagte die ältere Metaphysik voreilig: die Materie ist das Rohe, Schlechte, Nichtseiende, der Geist ist das Reine. Feine, Gute, das Seiende, u. s. w. Was hat nun solches Reden für einen wissenschaftlichen Werth gegen¬ über der Thatsache, daß die Materie eine Kraft ist, die in unveränderlicher Güte gemäß dem Gesetz der Gravitation wirkt, während der Geist eine Kraft ist, die sich zwar als Kraft der Sittlichkeit fühlt und weiß, die aber Güte und Reinheit verlieren kann, wenn sie aufhört, sich gemäß dem Sittengesetze bethä¬ tigen zu wollen? Diese voreilige Auffassung von Geist und Materie lebt aber nicht nur, wie Lazarus sagt, in der älteren Metaphysik, sie lebt noch in der neueren. Sie lebt sogar in der des Materialismus, wenn er sagt: Die feineren Verbindungen des Gehirns produziren das Denken, diese feinste, höchste Thä¬ tigkeit des Organismus; sie lebt aber auch in jenen Spekulationen, die mit Hegel in der Natur nur ein Anderssein, ein Entartetsein des Geistes erblicken, oder die mit Schopenhauer und v. Hartmann in der materiellen Natur das Treiben eines unbewußten und sogar dummen Willens annehmen. Diese Voreiligkeit einer von subjektiven Apperceptionen ausgehenden Meta¬ physik will Lazarus vermeiden, und die Art und den Umfang der Erscheinungen aufsuchend, will er (S. 32) „die Gesetze und Bedingungen des gemeinsamen Wirkens von Geist und Körper erforschen," unbekümmert vorerst darüber, ..wer oder was der Träger (das Substrat) dieser Wirkungen sein möge." Mit diesem Thun aber steht Lazarus auf jenem Boden wahrer Wissenschaft, den auch Virchow in seiner Naturforscher-Rede am 22. Sept. 1877 zu München forderte. Er sagt (die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat, Berlin 1877) S. 27: „Ich habe immer Werth darauf gelegt, daß man nicht in erster Linie die Uebergänge des Unorganischen und Organischen aufsuche, sondern zuerst den Gegensatz fixire, und in diesem Gegensatz seine Studien mache; und wir müssen die geistigen Vorgänge da fixiren, wo uns wirklich geistige Erscheinungen entgegentreten. Es ist ganz schön und vortrefflich, wenn Philo-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/183>, abgerufen am 06.10.2024.