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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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behandelt er den, dessen Heimathküste er vielleicht von der Burg seiner Stadt
ans erblicken kann, und barbarisch übt er das Kriegsrecht wider den Besiegten.
Was das mittelalterliche Deutschland durch politische Mittel erreicht hat, seine
wenn auch nur lose Einigung, dazu hat das mittelalterliche Griechenland nur
schwache Ansätze gemacht und zwar auf religiösem Boden: um den Tempel
des Zeus zu Olympia schaaren sich zu gemeinsamem Fest Eleier und Spar¬
taner, um das Heiligthum des orakelspendenden Apollon zu Delphi die Stämme
des mittleren Hellas, aber politische Zwecke liegen diesen Verbänden ganz fern,
und über das ganze Griechenland erstreckt sich nicht eine dieser Amphiktyonien.

Für sie würde man im christlichen Mittelalter vergebens Analogien suchen,
aber die völkerverbindende Kraft kirchlicher Institute, wie sie in ihnen hervor¬
tritt, führt uns auf eine andere Analogie, auf die allgemein geistige Signatar
der Epoche im griechischen wie im christlichen Mittelalter. Es ist wahrhaftig
nicht nur Ungeschick der Historiker, wenn uns in der Zeit vor den Kreuzzügen
so wenige individuell gefärbte Persönlichkeiten entgegentreten; in der That war
die Individualität damals weniger entwickelt als heute. Der Einzelne erscheint
gebunden an das Leben seines kleinen Kreises und an eine feste Kette der
Ueberlieferung. Er ist unfähig, seine Eigenart, seine Anschauung dem Ganzen,
das ihn umgiebt, und der Masse des Ueberlieferten entgegenzustellen, er kann
folglich eine Kritik nicht üben. Mit naiver Gläubigkeit empfängt er aus dem
Munde des Priesters die Dogmen der Religion, nimmt er in der bildenden
Kunst die überlieferten Formen auf, malt getreulich David und Maria, wie
man sie vor Jahrhunderten auch gemalt, meißelt seine Steinsäulen und wölbt
seine Rundbögen wie es kunstfertige Männer von Italien und Byzanz seine
Vorfahren gelehrt; harmlos nimmt er ebenso die Sage auf und erzählt sie
anderen weiter, ohne andere als unbewußte Zuthaten. Hätte nicht der geist¬
liche Einfluß verkümmernd gewirkt, wir würden vermuthlich ein großartiges
deutsches Volksepos aus dem 10. und 11. Jahrhundert haben, von dem das
Waltharilied in lateinischen Gewände als ein mächtiger Torso aufrecht steht,
denn ein tiefer Strom nationaler Sage zieht unter der Decke kirchlicher Ge¬
lehrsamkeit durch das Volk. Uebt aber der mittelalterliche Mensch keine Kritik,
so ist er auch nicht fähig zur Abstraktion; ist er eine epische Natur, so ist er
auch ein geborener Polytheist. Für ihn verschwindet der einige Gott hinter
einem bunten Gewimmel von Heiligen; so viele besondere Bedürfnisse er hat,
so vielen Heiligen legt er sie ans Herz; er fleht zu Se. Nicolaus, wenn sein
Schiff auf empörtem Wasserschwalle schwankt, zu Se. Florian, wenn das Feuer
aus seinem Strohdach schlägt, zum heiligen Antonius, wenn die Seuche sein
Vieh schädigt, nicht zu Gott dem Allmächtigen.

Dieselbe Unfähigkeit, von der konkreten Vielheit auf die abstrakte Einheit


Grenzboten II. 1878. 17

behandelt er den, dessen Heimathküste er vielleicht von der Burg seiner Stadt
ans erblicken kann, und barbarisch übt er das Kriegsrecht wider den Besiegten.
Was das mittelalterliche Deutschland durch politische Mittel erreicht hat, seine
wenn auch nur lose Einigung, dazu hat das mittelalterliche Griechenland nur
schwache Ansätze gemacht und zwar auf religiösem Boden: um den Tempel
des Zeus zu Olympia schaaren sich zu gemeinsamem Fest Eleier und Spar¬
taner, um das Heiligthum des orakelspendenden Apollon zu Delphi die Stämme
des mittleren Hellas, aber politische Zwecke liegen diesen Verbänden ganz fern,
und über das ganze Griechenland erstreckt sich nicht eine dieser Amphiktyonien.

Für sie würde man im christlichen Mittelalter vergebens Analogien suchen,
aber die völkerverbindende Kraft kirchlicher Institute, wie sie in ihnen hervor¬
tritt, führt uns auf eine andere Analogie, auf die allgemein geistige Signatar
der Epoche im griechischen wie im christlichen Mittelalter. Es ist wahrhaftig
nicht nur Ungeschick der Historiker, wenn uns in der Zeit vor den Kreuzzügen
so wenige individuell gefärbte Persönlichkeiten entgegentreten; in der That war
die Individualität damals weniger entwickelt als heute. Der Einzelne erscheint
gebunden an das Leben seines kleinen Kreises und an eine feste Kette der
Ueberlieferung. Er ist unfähig, seine Eigenart, seine Anschauung dem Ganzen,
das ihn umgiebt, und der Masse des Ueberlieferten entgegenzustellen, er kann
folglich eine Kritik nicht üben. Mit naiver Gläubigkeit empfängt er aus dem
Munde des Priesters die Dogmen der Religion, nimmt er in der bildenden
Kunst die überlieferten Formen auf, malt getreulich David und Maria, wie
man sie vor Jahrhunderten auch gemalt, meißelt seine Steinsäulen und wölbt
seine Rundbögen wie es kunstfertige Männer von Italien und Byzanz seine
Vorfahren gelehrt; harmlos nimmt er ebenso die Sage auf und erzählt sie
anderen weiter, ohne andere als unbewußte Zuthaten. Hätte nicht der geist¬
liche Einfluß verkümmernd gewirkt, wir würden vermuthlich ein großartiges
deutsches Volksepos aus dem 10. und 11. Jahrhundert haben, von dem das
Waltharilied in lateinischen Gewände als ein mächtiger Torso aufrecht steht,
denn ein tiefer Strom nationaler Sage zieht unter der Decke kirchlicher Ge¬
lehrsamkeit durch das Volk. Uebt aber der mittelalterliche Mensch keine Kritik,
so ist er auch nicht fähig zur Abstraktion; ist er eine epische Natur, so ist er
auch ein geborener Polytheist. Für ihn verschwindet der einige Gott hinter
einem bunten Gewimmel von Heiligen; so viele besondere Bedürfnisse er hat,
so vielen Heiligen legt er sie ans Herz; er fleht zu Se. Nicolaus, wenn sein
Schiff auf empörtem Wasserschwalle schwankt, zu Se. Florian, wenn das Feuer
aus seinem Strohdach schlägt, zum heiligen Antonius, wenn die Seuche sein
Vieh schädigt, nicht zu Gott dem Allmächtigen.

Dieselbe Unfähigkeit, von der konkreten Vielheit auf die abstrakte Einheit


Grenzboten II. 1878. 17
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[0133] behandelt er den, dessen Heimathküste er vielleicht von der Burg seiner Stadt ans erblicken kann, und barbarisch übt er das Kriegsrecht wider den Besiegten. Was das mittelalterliche Deutschland durch politische Mittel erreicht hat, seine wenn auch nur lose Einigung, dazu hat das mittelalterliche Griechenland nur schwache Ansätze gemacht und zwar auf religiösem Boden: um den Tempel des Zeus zu Olympia schaaren sich zu gemeinsamem Fest Eleier und Spar¬ taner, um das Heiligthum des orakelspendenden Apollon zu Delphi die Stämme des mittleren Hellas, aber politische Zwecke liegen diesen Verbänden ganz fern, und über das ganze Griechenland erstreckt sich nicht eine dieser Amphiktyonien. Für sie würde man im christlichen Mittelalter vergebens Analogien suchen, aber die völkerverbindende Kraft kirchlicher Institute, wie sie in ihnen hervor¬ tritt, führt uns auf eine andere Analogie, auf die allgemein geistige Signatar der Epoche im griechischen wie im christlichen Mittelalter. Es ist wahrhaftig nicht nur Ungeschick der Historiker, wenn uns in der Zeit vor den Kreuzzügen so wenige individuell gefärbte Persönlichkeiten entgegentreten; in der That war die Individualität damals weniger entwickelt als heute. Der Einzelne erscheint gebunden an das Leben seines kleinen Kreises und an eine feste Kette der Ueberlieferung. Er ist unfähig, seine Eigenart, seine Anschauung dem Ganzen, das ihn umgiebt, und der Masse des Ueberlieferten entgegenzustellen, er kann folglich eine Kritik nicht üben. Mit naiver Gläubigkeit empfängt er aus dem Munde des Priesters die Dogmen der Religion, nimmt er in der bildenden Kunst die überlieferten Formen auf, malt getreulich David und Maria, wie man sie vor Jahrhunderten auch gemalt, meißelt seine Steinsäulen und wölbt seine Rundbögen wie es kunstfertige Männer von Italien und Byzanz seine Vorfahren gelehrt; harmlos nimmt er ebenso die Sage auf und erzählt sie anderen weiter, ohne andere als unbewußte Zuthaten. Hätte nicht der geist¬ liche Einfluß verkümmernd gewirkt, wir würden vermuthlich ein großartiges deutsches Volksepos aus dem 10. und 11. Jahrhundert haben, von dem das Waltharilied in lateinischen Gewände als ein mächtiger Torso aufrecht steht, denn ein tiefer Strom nationaler Sage zieht unter der Decke kirchlicher Ge¬ lehrsamkeit durch das Volk. Uebt aber der mittelalterliche Mensch keine Kritik, so ist er auch nicht fähig zur Abstraktion; ist er eine epische Natur, so ist er auch ein geborener Polytheist. Für ihn verschwindet der einige Gott hinter einem bunten Gewimmel von Heiligen; so viele besondere Bedürfnisse er hat, so vielen Heiligen legt er sie ans Herz; er fleht zu Se. Nicolaus, wenn sein Schiff auf empörtem Wasserschwalle schwankt, zu Se. Florian, wenn das Feuer aus seinem Strohdach schlägt, zum heiligen Antonius, wenn die Seuche sein Vieh schädigt, nicht zu Gott dem Allmächtigen. Dieselbe Unfähigkeit, von der konkreten Vielheit auf die abstrakte Einheit Grenzboten II. 1878. 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/133>, abgerufen am 27.07.2024.