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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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dem mittelalterlichen Monarchen die römische Kirche gegenüber, älter als jede
bestehende weltliche Macht, eine mächtige, überall gleichmäßig organisirte Ge¬
nossenschaft, die abendländische Welt überherrscheud, im Alleinbesitze aller Geistes¬
bildung ihrer Zeit! Und dem entspricht der Zustand der nationalen Gemein¬
schaften. Man kann sagen: die politische Anschauung des Mittelalters ist
universal oder partikularistisch, nicht national. Nicht die Einheit ihrer Nation
erstreben unsere kraftvollsten Könige, sondern die Weltherrschaft; fast nur den
Fremden gegenüber macht sich nationales Bewußtsein geltend; geringschätzig
schaut der Deutsche auf die Wälschen herab, die er hundertmal schlug, auf die
Slawen, deren Volksname ihm zur Bezeichnung der Unfreien wurde, auf die
Magyaren, deren flüchtige Reitergeschwader es längst verlernt hatten, deutsche
Gefilde zu zerstampfen. In solchem Gefühl sind alle deutschen Stämme einig.
Aber ganz unberührt davon bleibt die Besonderheit des Stammeslebens in
Recht, Sitte, Sprache; nur Stammesrechte giebt es, kein nationales Recht, mir
Dialekte, keine allgemein verständliche deutsche Sprache. Was Wunder also,
wenn dem Baiern der Niedersachse zunächst als Fremder erscheint, wenn nur
langsam ein gemeinsamer Volksname, wie die Fremden ihn längst den deut¬
schen Stämmen beilegten, sich unter diesen selbst festsetzt?

Es ist nicht schwer, die Hauptzüge dieses Bildes auch in Griechenland
wiederzufinden, so weit sie nicht durch die innerste Natur des Landes und des
Volkes modifizirt wurden. Freilich ist unsere Kenntniß gerade der drei Jahr¬
hunderte von 1050 bis 750 überaus lückenhaft; nußer dürftigen Nachrichten
späterer Historiker bieten nur die homerischen Gesänge Material. Denn das
wird man ja ohne Weiteres annehmen dürfen, daß sie im Wesentlichen die
Zustände nicht einer früheren, sondern ihrer Zeit schildern, soweit dieselben
nicht untrennbar mit dem überlieferten Sagenstoffe verbunden sind. Ebenso
malt ja das Nibelungenlied im Ganzen das ritterliche und höfische Leben des
12. Jahrhunderts, die Wanderzeit, in der es spielt, nur in den Charakteren
und Ereignissen. Da erscheint denn bei den Griechen zunächst die eine Grund¬
lage mittelalterlichen Volkslebens, die aristokratische Fügung der Gesellschaft,
mindestens ebenso ausgeprägt, als im Mittelalter der christlichen Völker. Zwar
die Monarchie hat sich fast überall behauptet, aber der herrschende Stand ist
der Adel; diese "^ro^s ^" ^<?o^es", diese "Führer und Rather" blicken
unter ihrem "nickenden Helmbusch" ebenso trotzig von ihrem Streitwagen ans
den <?Mos, auf das Volk, herab, wie die deutschen Edelleute auf ihre Bauern;
mit Spott und Hohn wird Thersites in seine Schranken zurückgewiesen, und,
was mehr bedeutet, seine Standesgenossen finden das ganz in der Ordnung.
Nicht anders stehen die achäischen Könige in Sparta, Argos, Korinth mit
ihrem dorischen Kriegsvolk, das sich eingedrängt, sich das beste Land als Lehrs-


dem mittelalterlichen Monarchen die römische Kirche gegenüber, älter als jede
bestehende weltliche Macht, eine mächtige, überall gleichmäßig organisirte Ge¬
nossenschaft, die abendländische Welt überherrscheud, im Alleinbesitze aller Geistes¬
bildung ihrer Zeit! Und dem entspricht der Zustand der nationalen Gemein¬
schaften. Man kann sagen: die politische Anschauung des Mittelalters ist
universal oder partikularistisch, nicht national. Nicht die Einheit ihrer Nation
erstreben unsere kraftvollsten Könige, sondern die Weltherrschaft; fast nur den
Fremden gegenüber macht sich nationales Bewußtsein geltend; geringschätzig
schaut der Deutsche auf die Wälschen herab, die er hundertmal schlug, auf die
Slawen, deren Volksname ihm zur Bezeichnung der Unfreien wurde, auf die
Magyaren, deren flüchtige Reitergeschwader es längst verlernt hatten, deutsche
Gefilde zu zerstampfen. In solchem Gefühl sind alle deutschen Stämme einig.
Aber ganz unberührt davon bleibt die Besonderheit des Stammeslebens in
Recht, Sitte, Sprache; nur Stammesrechte giebt es, kein nationales Recht, mir
Dialekte, keine allgemein verständliche deutsche Sprache. Was Wunder also,
wenn dem Baiern der Niedersachse zunächst als Fremder erscheint, wenn nur
langsam ein gemeinsamer Volksname, wie die Fremden ihn längst den deut¬
schen Stämmen beilegten, sich unter diesen selbst festsetzt?

Es ist nicht schwer, die Hauptzüge dieses Bildes auch in Griechenland
wiederzufinden, so weit sie nicht durch die innerste Natur des Landes und des
Volkes modifizirt wurden. Freilich ist unsere Kenntniß gerade der drei Jahr¬
hunderte von 1050 bis 750 überaus lückenhaft; nußer dürftigen Nachrichten
späterer Historiker bieten nur die homerischen Gesänge Material. Denn das
wird man ja ohne Weiteres annehmen dürfen, daß sie im Wesentlichen die
Zustände nicht einer früheren, sondern ihrer Zeit schildern, soweit dieselben
nicht untrennbar mit dem überlieferten Sagenstoffe verbunden sind. Ebenso
malt ja das Nibelungenlied im Ganzen das ritterliche und höfische Leben des
12. Jahrhunderts, die Wanderzeit, in der es spielt, nur in den Charakteren
und Ereignissen. Da erscheint denn bei den Griechen zunächst die eine Grund¬
lage mittelalterlichen Volkslebens, die aristokratische Fügung der Gesellschaft,
mindestens ebenso ausgeprägt, als im Mittelalter der christlichen Völker. Zwar
die Monarchie hat sich fast überall behauptet, aber der herrschende Stand ist
der Adel; diese „^ro^s ^« ^<?o^es", diese „Führer und Rather" blicken
unter ihrem „nickenden Helmbusch" ebenso trotzig von ihrem Streitwagen ans
den <?Mos, auf das Volk, herab, wie die deutschen Edelleute auf ihre Bauern;
mit Spott und Hohn wird Thersites in seine Schranken zurückgewiesen, und,
was mehr bedeutet, seine Standesgenossen finden das ganz in der Ordnung.
Nicht anders stehen die achäischen Könige in Sparta, Argos, Korinth mit
ihrem dorischen Kriegsvolk, das sich eingedrängt, sich das beste Land als Lehrs-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/131>, abgerufen am 27.07.2024.