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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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und wie groß, die ganze Schöpfung mir nicht zu geben vermag. Du mein ^
künftiges Sein, wie jauchz' ich Dir entgegen!"

Zur wirklichen Schönheit erheben sich diese Betrachtungen bei Klopstock
nur, wenn eine individuelle Empfindung sie belebt; den schönsten Ausdruck
fand er in der "Frühlingsfeier."

"Nicht in den Ocean der Welten alle will ich mich stürzen! schweben nicht,
wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts anbeten, tief
anbeten und in Entzückung vergehn! Nur um den Tropfen am Eimer, um die
Erde nur, will ich schweben und anbeten! Halleluja! Der Tropfen am Eimer
rann aus der Hand des Allmächtigen auch! . . . Wer sind die Myriaden alle,
welche den Tropfen bewohnten? und wer bin ich? Halleluja dem Schaffenden!
mehr wie die Erden, die quollen! mehr wie die Siebengestirne, die aus Strahlen
zusammenströmten! -- Aber du Frühlingswürmchen, das grünlichgolden neben
mir spielt, du lebst; und bist vielleicht auch nicht unsterblich! Ich bin
herausgegangen anzubeten, und ich weine! Vergieb, vergieb auch diese Thräne
dem Endlichen, o du, der sein wird! Dn wirst die Zweifel alle mir enthüllen,
o du, der mich dnrch das dunkle Thal des Todes führen wird! Ich lerne
dann, ob eine Seele das goldne Würmchen hatte."

Wenn sowohl das Gefühl wie der Verstand kategorische Anforderungen
an das religiöse Leben stellten, so suchten sie sich auch gegenseitig aus einan¬
der zu setzen: das Lieblingsthema der damaligen Philosophie war eine Theorie
der Empfindungen.

"Wir würden unglücklich sein," schreibt Moses, "wenn sich all unsre Em¬
pfindungen auf einmal zu reinen und deutlichen Vorstellungen aufheiterten.
Weder völlig deutliche noch völlig dunkle Begriffe vertragen sich mit dem Ge¬
fühl der Schönheit: jene nicht, weil unsre eingeschränkte Seele keine Mannig¬
faltigkeit auf einmal deutlich zu fassen vermag; diese nicht, weil sie sich der
Wahrnehmung entzieh". Alle Begriffe der Schönheit müssen zwischen den
Grenzen der Klarheit eingeschlossen sein. Der Künstler darf im Augenblick des
Schaffens das Gesetz nicht allzu deutlich vor Augen haben. -- Das Vergnü¬
gen an der sinnlichen Schönheit ist blos unserm Unvermögen zuzuschreiben.
Wir ermüden, wenn unsre Sinne eine allzuverwickelte Ordnung auseinander¬
legen sollen. Wesen, mit schärfern Sinnen begabt, müssen in unsern Schön¬
heiten ein ekelhaftes Einerlei finden, und was uns ermüdet, kann ihnen Lust
gewähren. Gott, der alles Mögliche auf einmal übersieht, hat kein Gefallen
am Schönen. Nur die äußere Gestalt der Dinge hat er mit sinnlicher Schön¬
heit bedeckt, um die Sinne endlicher Geschöpfe zu reizen. Unter der Haut
liegen gräßliche Gestalten verborgen: alle Gefäße sind ohne scheinbare Ord¬
nung in einander verschlungen; kein Ebenmaß, keine sinnlichen Verhältnisse.'


Grenzboten II. 1878. 14

und wie groß, die ganze Schöpfung mir nicht zu geben vermag. Du mein ^
künftiges Sein, wie jauchz' ich Dir entgegen!"

Zur wirklichen Schönheit erheben sich diese Betrachtungen bei Klopstock
nur, wenn eine individuelle Empfindung sie belebt; den schönsten Ausdruck
fand er in der „Frühlingsfeier."

„Nicht in den Ocean der Welten alle will ich mich stürzen! schweben nicht,
wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts anbeten, tief
anbeten und in Entzückung vergehn! Nur um den Tropfen am Eimer, um die
Erde nur, will ich schweben und anbeten! Halleluja! Der Tropfen am Eimer
rann aus der Hand des Allmächtigen auch! . . . Wer sind die Myriaden alle,
welche den Tropfen bewohnten? und wer bin ich? Halleluja dem Schaffenden!
mehr wie die Erden, die quollen! mehr wie die Siebengestirne, die aus Strahlen
zusammenströmten! — Aber du Frühlingswürmchen, das grünlichgolden neben
mir spielt, du lebst; und bist vielleicht auch nicht unsterblich! Ich bin
herausgegangen anzubeten, und ich weine! Vergieb, vergieb auch diese Thräne
dem Endlichen, o du, der sein wird! Dn wirst die Zweifel alle mir enthüllen,
o du, der mich dnrch das dunkle Thal des Todes führen wird! Ich lerne
dann, ob eine Seele das goldne Würmchen hatte."

Wenn sowohl das Gefühl wie der Verstand kategorische Anforderungen
an das religiöse Leben stellten, so suchten sie sich auch gegenseitig aus einan¬
der zu setzen: das Lieblingsthema der damaligen Philosophie war eine Theorie
der Empfindungen.

„Wir würden unglücklich sein," schreibt Moses, „wenn sich all unsre Em¬
pfindungen auf einmal zu reinen und deutlichen Vorstellungen aufheiterten.
Weder völlig deutliche noch völlig dunkle Begriffe vertragen sich mit dem Ge¬
fühl der Schönheit: jene nicht, weil unsre eingeschränkte Seele keine Mannig¬
faltigkeit auf einmal deutlich zu fassen vermag; diese nicht, weil sie sich der
Wahrnehmung entzieh». Alle Begriffe der Schönheit müssen zwischen den
Grenzen der Klarheit eingeschlossen sein. Der Künstler darf im Augenblick des
Schaffens das Gesetz nicht allzu deutlich vor Augen haben. — Das Vergnü¬
gen an der sinnlichen Schönheit ist blos unserm Unvermögen zuzuschreiben.
Wir ermüden, wenn unsre Sinne eine allzuverwickelte Ordnung auseinander¬
legen sollen. Wesen, mit schärfern Sinnen begabt, müssen in unsern Schön¬
heiten ein ekelhaftes Einerlei finden, und was uns ermüdet, kann ihnen Lust
gewähren. Gott, der alles Mögliche auf einmal übersieht, hat kein Gefallen
am Schönen. Nur die äußere Gestalt der Dinge hat er mit sinnlicher Schön¬
heit bedeckt, um die Sinne endlicher Geschöpfe zu reizen. Unter der Haut
liegen gräßliche Gestalten verborgen: alle Gefäße sind ohne scheinbare Ord¬
nung in einander verschlungen; kein Ebenmaß, keine sinnlichen Verhältnisse.'


Grenzboten II. 1878. 14
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/109>, abgerufen am 27.07.2024.