Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.langte. Die Bücher wurden verschlungen: sie waren erbaulich und machten "Zwar in der Welt ist nur Alles ein Räthsel. Ich sehe die Oberfläche Das religiöse Gefühl blieb fest, wie sehr auch die wissenschaftlichen Vor¬ I. B. Michaelis (38 I.) in Göttingen, der gelehrte Orientalist, und Die Vertheidigung des Christenthums gegen die Freigeister wurde meist Der Verfasser, Samuel Reimarus (60 I.), Professor des Hebräischen Aber in diesen Schriften spricht er nur sein exoterisches Denken aus; die langte. Die Bücher wurden verschlungen: sie waren erbaulich und machten „Zwar in der Welt ist nur Alles ein Räthsel. Ich sehe die Oberfläche Das religiöse Gefühl blieb fest, wie sehr auch die wissenschaftlichen Vor¬ I. B. Michaelis (38 I.) in Göttingen, der gelehrte Orientalist, und Die Vertheidigung des Christenthums gegen die Freigeister wurde meist Der Verfasser, Samuel Reimarus (60 I.), Professor des Hebräischen Aber in diesen Schriften spricht er nur sein exoterisches Denken aus; die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0102" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139923"/> <p xml:id="ID_343" prev="#ID_342"> langte. Die Bücher wurden verschlungen: sie waren erbaulich und machten<lb/> nicht viel Ansprüche.</p><lb/> <p xml:id="ID_344"> „Zwar in der Welt ist nur Alles ein Räthsel. Ich sehe die Oberfläche<lb/> der Dinge, ihre innere Beschaffenheit bleibt mir unerforschlich. Alles verwirrt<lb/> mich, Alles macht mich unsicher: doch was brauche ich mehr zu wissen, da<lb/> ich meine Schuldigkeit und die Oberherrschaft einer unendlichen Liebe mit un¬<lb/> zweifelhafter Ueberzeugung erkenne?"</p><lb/> <p xml:id="ID_345"> Das religiöse Gefühl blieb fest, wie sehr auch die wissenschaftlichen Vor¬<lb/> aussetzungen der Religion durch die neuen Forschungen untergraben wurden.</p><lb/> <p xml:id="ID_346"> I. B. Michaelis (38 I.) in Göttingen, der gelehrte Orientalist, und<lb/> Semler (27 I.) in Halle suchten vom Christenthum das morgenlündische<lb/> Colorit, die historische, lokale und zeitliche Bedingtheit abzuschälen, da sich die<lb/> Offenbarung dem menschlichen Verständniß, dem zeitlich entwickelten, anbequemt<lb/> habe, und nur das stehn zu lassen, was zur „Ausbesserung" des Menschen<lb/> beitrage; das Weitere solle Privatsache des Menschen sein. Uebrigens stand<lb/> namentlich Semler in seiner Privatreligion fest, er war ein gläubiger Christ,<lb/> und das Leben in seinem Hanse höchst erbaulich eingerichtet.</p><lb/> <p xml:id="ID_347"> Die Vertheidigung des Christenthums gegen die Freigeister wurde meist<lb/> vom Standpunkt der Empfindung unternommen; eine Vertheidigung vom Stand¬<lb/> punkt des Verstandes schienen die „Abhandlungen von den vornehmsten Wahr¬<lb/> heiten der natürlichen Religion" 1755 zu bezwecken.</p><lb/> <p xml:id="ID_348"> Der Verfasser, Samuel Reimarus (60 I.), Professor des Hebräischen<lb/> am Gymnasium zu Hamburg, hatte in Wittenberg und Jena studirt, auch die<lb/> übliche gelehrte Reise durch England und Holland gemacht. Ein höchst geachteter<lb/> Schulmann, Gelehrter im vollsten Sinn des Worts, hatte er seine Studien nicht<lb/> auf die Philologie beschränkt, sondern in der Literaturgeschichte, Rechtswissen¬<lb/> schaft und Naturlehre sehr erhebliche Kenntnisse gewonnen. Jene Abhandlung<lb/> wie die gleich darauf folgende „Vernunftlehre" vertritt den Wolffischen Stand¬<lb/> punkt. Er war Freund und Schüler von Brock es, und verfocht gleich diesem<lb/> in der Naturlehre das teleologische Princip, so in den „Betrachtungen über<lb/> die Triebe der Thiere."</p><lb/> <p xml:id="ID_349" next="#ID_350"> Aber in diesen Schriften spricht er nur sein exoterisches Denken aus; die<lb/> geheimsten Ueberzeugungen seines Innern legte er in einem Manuscript nieder,<lb/> an dem er schon vor 1747 arbeitete und das er bis an sein Lebesende aus¬<lb/> feilte: „Apologie für die vernünftigen Verehrer Gottes"; der schärfste Angriff<lb/> gegen die offenbarte Religion überhaupt und gegen das Christenthum insbesondere,<lb/> der je in Deutschland gewegt ist. — Er zeigte im Alten Testament in den<lb/> Lieblingen Gottes Physiognomien von abschreckender Häßfigkeit, Menschen von<lb/> tiefer Jmmoralität; er suchte in den Evangelien nicht blos Irrthum und Zu-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0102]
langte. Die Bücher wurden verschlungen: sie waren erbaulich und machten
nicht viel Ansprüche.
„Zwar in der Welt ist nur Alles ein Räthsel. Ich sehe die Oberfläche
der Dinge, ihre innere Beschaffenheit bleibt mir unerforschlich. Alles verwirrt
mich, Alles macht mich unsicher: doch was brauche ich mehr zu wissen, da
ich meine Schuldigkeit und die Oberherrschaft einer unendlichen Liebe mit un¬
zweifelhafter Ueberzeugung erkenne?"
Das religiöse Gefühl blieb fest, wie sehr auch die wissenschaftlichen Vor¬
aussetzungen der Religion durch die neuen Forschungen untergraben wurden.
I. B. Michaelis (38 I.) in Göttingen, der gelehrte Orientalist, und
Semler (27 I.) in Halle suchten vom Christenthum das morgenlündische
Colorit, die historische, lokale und zeitliche Bedingtheit abzuschälen, da sich die
Offenbarung dem menschlichen Verständniß, dem zeitlich entwickelten, anbequemt
habe, und nur das stehn zu lassen, was zur „Ausbesserung" des Menschen
beitrage; das Weitere solle Privatsache des Menschen sein. Uebrigens stand
namentlich Semler in seiner Privatreligion fest, er war ein gläubiger Christ,
und das Leben in seinem Hanse höchst erbaulich eingerichtet.
Die Vertheidigung des Christenthums gegen die Freigeister wurde meist
vom Standpunkt der Empfindung unternommen; eine Vertheidigung vom Stand¬
punkt des Verstandes schienen die „Abhandlungen von den vornehmsten Wahr¬
heiten der natürlichen Religion" 1755 zu bezwecken.
Der Verfasser, Samuel Reimarus (60 I.), Professor des Hebräischen
am Gymnasium zu Hamburg, hatte in Wittenberg und Jena studirt, auch die
übliche gelehrte Reise durch England und Holland gemacht. Ein höchst geachteter
Schulmann, Gelehrter im vollsten Sinn des Worts, hatte er seine Studien nicht
auf die Philologie beschränkt, sondern in der Literaturgeschichte, Rechtswissen¬
schaft und Naturlehre sehr erhebliche Kenntnisse gewonnen. Jene Abhandlung
wie die gleich darauf folgende „Vernunftlehre" vertritt den Wolffischen Stand¬
punkt. Er war Freund und Schüler von Brock es, und verfocht gleich diesem
in der Naturlehre das teleologische Princip, so in den „Betrachtungen über
die Triebe der Thiere."
Aber in diesen Schriften spricht er nur sein exoterisches Denken aus; die
geheimsten Ueberzeugungen seines Innern legte er in einem Manuscript nieder,
an dem er schon vor 1747 arbeitete und das er bis an sein Lebesende aus¬
feilte: „Apologie für die vernünftigen Verehrer Gottes"; der schärfste Angriff
gegen die offenbarte Religion überhaupt und gegen das Christenthum insbesondere,
der je in Deutschland gewegt ist. — Er zeigte im Alten Testament in den
Lieblingen Gottes Physiognomien von abschreckender Häßfigkeit, Menschen von
tiefer Jmmoralität; er suchte in den Evangelien nicht blos Irrthum und Zu-
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