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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band.

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nicht für euch! kehrt den Blick in euch selbst! -- Wie? schrie der Sophist.
Lästerer unsrer Götter! Verfolger der Weisheit! wohin zielen deine schwärme¬
rischen Lehren? Uns den Lehrstuhl zu verschließen?---Es ging der Reli¬
gion wie der Weltweisheit.--Christus kam. Waren seine Absichten etwas
Andres, als die Religion in ihrer Lauterkeit wieder herzustellen? --

Sobald die Kirche Frieden bekam, fiel sie darauf, ihre Lehrsätze in eine
gewisse Ordnung zu bringen und die göttliche Wahrheit mit menschlichen Be¬
weisen zu unterstützen. Schritt für Schritt durch alle Jahrhunderte könnte
man zeigen, wie das ausübende Christenthum von Tag zu Tag abgenommen
hat, da unterdessen das beschauende durch phantastische Grillen zu einer Höhe
stieg, zu welcher der Aberglaube noch nie eine Religion gebracht hat. -- Man
kennt diejenigen, die in diesen unwürdigen Zeiten zuerst wieder mit ihren eignen
Augen sehn wollten. -- Der Aberglaube fiel. Aber eben das, wodurch ihr
ihn stürztet, die Vernunft, die so schwer in ihrer Sphäre zu erhalten ist, die
Vernunft führte euch auf einen andern Irrweg, der zwar weniger von der
Wahrheit, aber desto weiter von der Ausübung der Pflichten eines Christen
entfernt war.

Und jetzo, da unsre Zeiten -- soll ich sagen so glücklich oder so unglück¬
lich? -- sind, daß man eine so vortreffliche Zusammensetzung von Gottesge-
lcchrtheit und Weltweisheit gemacht hat, worin man mit Mühe und Noth eine
von der andern unterscheiden kann, worin eine die andre schwächt, indem diese
den Glauben durch Beweise erzwingen, und jene die Beweise durch den Glauben
unterstützen soll: jetzo ist ein wahrer Christ weit seltner, als in den dunkeln
Zeiten geworden." --

Das Gefühl hatte sich in Deutschland an der Religion großgezogen, als
selbständige Macht stellte es nun seinerseits an die Religion den Anspruch, seinen
Bedürfnissen Genüge zu thun. Der Rationalismus jener Tage geht nach zwei
Richtungen hin: die eine verlangte von der Religion, sie solle sich vor dem
Verstand, die andere, sie solle sich vor dem Gefühl legitimiren; jene war demon¬
strativ, diese erbaulich. Die letztere hatte, soweit von religiösem Leben über¬
haupt die Rede war, entschieden das Uebergewicht.

spät ding (41 I.), jetzt Pastor in Pommern, hatte in seiner Jugend
mit dem Hallischen Dichterkreise -- Gleim, Lange -- in der tändelnd ver¬
liebten Art verkehrt, die diesem Kreise eigen war; jetzt, ein stattlicher Geistlicher,
von den Frauen angeschwärmt und von den Männern trotz seiner unvollkom¬
menen Gelehrsamkeit hochgeachtet, veröffentlichte er "Betrachtungen über die
Bestimmung des Menschen" und "über den Werth der Gefühle im Christen¬
thum:" damit traf er recht ins Schwarze, es war genau, was die Zeit ver-


Grenzboten II. 1873. 16

nicht für euch! kehrt den Blick in euch selbst! — Wie? schrie der Sophist.
Lästerer unsrer Götter! Verfolger der Weisheit! wohin zielen deine schwärme¬
rischen Lehren? Uns den Lehrstuhl zu verschließen?---Es ging der Reli¬
gion wie der Weltweisheit.--Christus kam. Waren seine Absichten etwas
Andres, als die Religion in ihrer Lauterkeit wieder herzustellen? —

Sobald die Kirche Frieden bekam, fiel sie darauf, ihre Lehrsätze in eine
gewisse Ordnung zu bringen und die göttliche Wahrheit mit menschlichen Be¬
weisen zu unterstützen. Schritt für Schritt durch alle Jahrhunderte könnte
man zeigen, wie das ausübende Christenthum von Tag zu Tag abgenommen
hat, da unterdessen das beschauende durch phantastische Grillen zu einer Höhe
stieg, zu welcher der Aberglaube noch nie eine Religion gebracht hat. — Man
kennt diejenigen, die in diesen unwürdigen Zeiten zuerst wieder mit ihren eignen
Augen sehn wollten. — Der Aberglaube fiel. Aber eben das, wodurch ihr
ihn stürztet, die Vernunft, die so schwer in ihrer Sphäre zu erhalten ist, die
Vernunft führte euch auf einen andern Irrweg, der zwar weniger von der
Wahrheit, aber desto weiter von der Ausübung der Pflichten eines Christen
entfernt war.

Und jetzo, da unsre Zeiten — soll ich sagen so glücklich oder so unglück¬
lich? — sind, daß man eine so vortreffliche Zusammensetzung von Gottesge-
lcchrtheit und Weltweisheit gemacht hat, worin man mit Mühe und Noth eine
von der andern unterscheiden kann, worin eine die andre schwächt, indem diese
den Glauben durch Beweise erzwingen, und jene die Beweise durch den Glauben
unterstützen soll: jetzo ist ein wahrer Christ weit seltner, als in den dunkeln
Zeiten geworden." —

Das Gefühl hatte sich in Deutschland an der Religion großgezogen, als
selbständige Macht stellte es nun seinerseits an die Religion den Anspruch, seinen
Bedürfnissen Genüge zu thun. Der Rationalismus jener Tage geht nach zwei
Richtungen hin: die eine verlangte von der Religion, sie solle sich vor dem
Verstand, die andere, sie solle sich vor dem Gefühl legitimiren; jene war demon¬
strativ, diese erbaulich. Die letztere hatte, soweit von religiösem Leben über¬
haupt die Rede war, entschieden das Uebergewicht.

spät ding (41 I.), jetzt Pastor in Pommern, hatte in seiner Jugend
mit dem Hallischen Dichterkreise — Gleim, Lange — in der tändelnd ver¬
liebten Art verkehrt, die diesem Kreise eigen war; jetzt, ein stattlicher Geistlicher,
von den Frauen angeschwärmt und von den Männern trotz seiner unvollkom¬
menen Gelehrsamkeit hochgeachtet, veröffentlichte er „Betrachtungen über die
Bestimmung des Menschen" und „über den Werth der Gefühle im Christen¬
thum:" damit traf er recht ins Schwarze, es war genau, was die Zeit ver-


Grenzboten II. 1873. 16
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[0101] nicht für euch! kehrt den Blick in euch selbst! — Wie? schrie der Sophist. Lästerer unsrer Götter! Verfolger der Weisheit! wohin zielen deine schwärme¬ rischen Lehren? Uns den Lehrstuhl zu verschließen?---Es ging der Reli¬ gion wie der Weltweisheit.--Christus kam. Waren seine Absichten etwas Andres, als die Religion in ihrer Lauterkeit wieder herzustellen? — Sobald die Kirche Frieden bekam, fiel sie darauf, ihre Lehrsätze in eine gewisse Ordnung zu bringen und die göttliche Wahrheit mit menschlichen Be¬ weisen zu unterstützen. Schritt für Schritt durch alle Jahrhunderte könnte man zeigen, wie das ausübende Christenthum von Tag zu Tag abgenommen hat, da unterdessen das beschauende durch phantastische Grillen zu einer Höhe stieg, zu welcher der Aberglaube noch nie eine Religion gebracht hat. — Man kennt diejenigen, die in diesen unwürdigen Zeiten zuerst wieder mit ihren eignen Augen sehn wollten. — Der Aberglaube fiel. Aber eben das, wodurch ihr ihn stürztet, die Vernunft, die so schwer in ihrer Sphäre zu erhalten ist, die Vernunft führte euch auf einen andern Irrweg, der zwar weniger von der Wahrheit, aber desto weiter von der Ausübung der Pflichten eines Christen entfernt war. Und jetzo, da unsre Zeiten — soll ich sagen so glücklich oder so unglück¬ lich? — sind, daß man eine so vortreffliche Zusammensetzung von Gottesge- lcchrtheit und Weltweisheit gemacht hat, worin man mit Mühe und Noth eine von der andern unterscheiden kann, worin eine die andre schwächt, indem diese den Glauben durch Beweise erzwingen, und jene die Beweise durch den Glauben unterstützen soll: jetzo ist ein wahrer Christ weit seltner, als in den dunkeln Zeiten geworden." — Das Gefühl hatte sich in Deutschland an der Religion großgezogen, als selbständige Macht stellte es nun seinerseits an die Religion den Anspruch, seinen Bedürfnissen Genüge zu thun. Der Rationalismus jener Tage geht nach zwei Richtungen hin: die eine verlangte von der Religion, sie solle sich vor dem Verstand, die andere, sie solle sich vor dem Gefühl legitimiren; jene war demon¬ strativ, diese erbaulich. Die letztere hatte, soweit von religiösem Leben über¬ haupt die Rede war, entschieden das Uebergewicht. spät ding (41 I.), jetzt Pastor in Pommern, hatte in seiner Jugend mit dem Hallischen Dichterkreise — Gleim, Lange — in der tändelnd ver¬ liebten Art verkehrt, die diesem Kreise eigen war; jetzt, ein stattlicher Geistlicher, von den Frauen angeschwärmt und von den Männern trotz seiner unvollkom¬ menen Gelehrsamkeit hochgeachtet, veröffentlichte er „Betrachtungen über die Bestimmung des Menschen" und „über den Werth der Gefühle im Christen¬ thum:" damit traf er recht ins Schwarze, es war genau, was die Zeit ver- Grenzboten II. 1873. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157653/101>, abgerufen am 09.11.2024.