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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Don Carlos und sein Verhältniß zu König Philipp erhoben hat, der achte
über die Bulgaren im Mittelalter, der neunte über die Geschichte des Ver¬
fahrens bei den Papstwahlen, die beiden letzteren übrigens ebenfalls gestützt
auf einige in den letzten Jahren neu erschienene historische Publikationen. Dies
alles sind sehr dankenswerte, vortrefflich orientirende, klar und objektiv ge¬
schriebene Aufsätze. Aber wie kann man behaupten, daß diese neun Aufsätze
zusammen ein Bild von den Fortschritten unserer historischen Wissenschaft im
Laufe des letzten Jahres geben? Im Laufe des letzten Jahres ist unter an¬
derem ein so bedeutendes Werk wie Arneth's "Geschichte Maria Theresia's"
um einen 8. Band gefördert worden, L. Ranke hat fünf Bände "Denkwürdig¬
keiten des Fürsten von Hardenberg" veröffentlicht, K. Hillebrcmd den ersten
Band einer Geschichte Frankreichs seit 1830 herausgegeben -- würden diese
Werke nicht eher in den vorliegenden "Berichten" einen Platz haben bean¬
spruchen können, als Publikationen, die bereits um fünf, sechs Jahre zurück¬
liegen? Und weiter: Besteht denn die Geschichte bloß aus politischer Ge¬
schichte? Wo bleibt die Kulturgeschichte, die Kunstgeschichte, die Literaturge¬
schichte? Was ist das für ein Bild von den geschichtlichen Fortschritten der
letzten Zeit, in welchem ein so großartiges Werk, wie Dohme's "Kunst und
Künstler", welches die Summe von den kunstgeschichtlichen Forschungen ganzer
Jahrzehnte zieht, Werke wie Elze's Shakespearebivgraphie, H. Grimm's Goethe¬
biographie mit keiner Silbe berührt werden? Oder sollen derartige epoche¬
machende kunst- und literargeschichtliche Publikationen etwa unter die Rubriken
"Kunst" und "Literatur" verwiesen werden? Das gäbe eine schöne Konfusion,
wenn man die belletristischen und künstlerischen Tageserscheinungen und die
Geschichte der Künste und der Literatur unter den vagen Ueberschriften "Kunst"
und "Literatur" zusammenwerfen wollte.

Aber sehen wir uns doch die "Berichte" auch über die letztgenannten
Gebiete etwas genauer an. Den "Bericht" über "Literatur" hat durch
alle neun Hefte hindurch A. Strodtmanu geschrieben, der bekannte Biograph
Heine's, der Herausgeber eines vierbändigen Briefwechsels von G. A, Bürger,
der Verfasser eines sehr lehrreichen Buches über das geistige Leben in
Dänemark, der Uebersetzer von H. Brandes' geistvoller Literaturgeschichte des
19. Jahrhunderts, ein Schriftsteller also, der in jeder Beziehung zu einer
Aufgabe wie der vorliegenden Beruf hat. Was hat er aber gegeben? Im
ersten Hefte eine Seite Mittheilungen über den 1855 gestorbenen dänischen
Schriftsteller Sören Kierkegaard -- man denke: im ersten Hefte einer neu
erscheinenden "Deutschen Revue" Mittheilungen über einen vor zwanzig
Jahren verstorbenen dänischen Schriftsteller! Warum? Augenscheinlich, weil
Strodtmanu gerade mit der deutschen Bearbeitung einer kürzlich erschienenen


Don Carlos und sein Verhältniß zu König Philipp erhoben hat, der achte
über die Bulgaren im Mittelalter, der neunte über die Geschichte des Ver¬
fahrens bei den Papstwahlen, die beiden letzteren übrigens ebenfalls gestützt
auf einige in den letzten Jahren neu erschienene historische Publikationen. Dies
alles sind sehr dankenswerte, vortrefflich orientirende, klar und objektiv ge¬
schriebene Aufsätze. Aber wie kann man behaupten, daß diese neun Aufsätze
zusammen ein Bild von den Fortschritten unserer historischen Wissenschaft im
Laufe des letzten Jahres geben? Im Laufe des letzten Jahres ist unter an¬
derem ein so bedeutendes Werk wie Arneth's „Geschichte Maria Theresia's"
um einen 8. Band gefördert worden, L. Ranke hat fünf Bände „Denkwürdig¬
keiten des Fürsten von Hardenberg" veröffentlicht, K. Hillebrcmd den ersten
Band einer Geschichte Frankreichs seit 1830 herausgegeben — würden diese
Werke nicht eher in den vorliegenden „Berichten" einen Platz haben bean¬
spruchen können, als Publikationen, die bereits um fünf, sechs Jahre zurück¬
liegen? Und weiter: Besteht denn die Geschichte bloß aus politischer Ge¬
schichte? Wo bleibt die Kulturgeschichte, die Kunstgeschichte, die Literaturge¬
schichte? Was ist das für ein Bild von den geschichtlichen Fortschritten der
letzten Zeit, in welchem ein so großartiges Werk, wie Dohme's „Kunst und
Künstler", welches die Summe von den kunstgeschichtlichen Forschungen ganzer
Jahrzehnte zieht, Werke wie Elze's Shakespearebivgraphie, H. Grimm's Goethe¬
biographie mit keiner Silbe berührt werden? Oder sollen derartige epoche¬
machende kunst- und literargeschichtliche Publikationen etwa unter die Rubriken
„Kunst" und „Literatur" verwiesen werden? Das gäbe eine schöne Konfusion,
wenn man die belletristischen und künstlerischen Tageserscheinungen und die
Geschichte der Künste und der Literatur unter den vagen Ueberschriften „Kunst"
und „Literatur" zusammenwerfen wollte.

Aber sehen wir uns doch die „Berichte" auch über die letztgenannten
Gebiete etwas genauer an. Den „Bericht" über „Literatur" hat durch
alle neun Hefte hindurch A. Strodtmanu geschrieben, der bekannte Biograph
Heine's, der Herausgeber eines vierbändigen Briefwechsels von G. A, Bürger,
der Verfasser eines sehr lehrreichen Buches über das geistige Leben in
Dänemark, der Uebersetzer von H. Brandes' geistvoller Literaturgeschichte des
19. Jahrhunderts, ein Schriftsteller also, der in jeder Beziehung zu einer
Aufgabe wie der vorliegenden Beruf hat. Was hat er aber gegeben? Im
ersten Hefte eine Seite Mittheilungen über den 1855 gestorbenen dänischen
Schriftsteller Sören Kierkegaard — man denke: im ersten Hefte einer neu
erscheinenden „Deutschen Revue" Mittheilungen über einen vor zwanzig
Jahren verstorbenen dänischen Schriftsteller! Warum? Augenscheinlich, weil
Strodtmanu gerade mit der deutschen Bearbeitung einer kürzlich erschienenen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/94>, abgerufen am 20.10.2024.