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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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ihn nöthigen mußte, ennuyirt. Keine Neuigkeit über die Staats- und Civil¬
verfassungen von Zürich oder von andern Kantons, keine Neuigkeit, die Alpen
von weitem oder in der Nähe zu betrachten. Wenn Sulzer deu dudum nach
den Schweizerbergen richtete, so war der seine nach den Fenstern der Stadt
gerichtet. Kein Verlangen, meine Bücher zu sehn, viel weniger zu lesen. Herr
Breitinger ist oft zu ihm gekommen, aber bisher hat er ihm nicht einen
Besuch gemacht. Von Lg'M'als und (-on^iioi'.'Ulm weiß er sehr wenig, und
er hat mich nicht selten an seinem Rücken stehen lassen, wenn er Jünglingen
seine ganze Aufmerksamkeit gab. -- Erst dann ward er gesprächiger, wenn
er von einem Mädchenbesuch heimkam oder fröhlich getrunken hatte. Er ver¬
steht weder Englisch noch Italienisch. Seine Belesenheit ist schwach und er
fürchtet sich schier vor der Gelehrsamkeit als vor der Pedanterie selbst. Seine
Imagination ist in der höchsten Stärke. Er hat sein suM völlig in seiner
Gewalt. Er hat den Plan bis in die kleinsten Theile ausgedacht. Alles ist
in der besten Proportion angeordnet, das Bessere ist allemal dem Guten vor¬
gezogen. Er arbeitet sehr laugsam. In den letzten zwei Jahren hat er nicht
mehr als zwei Gesänge geschrieben,. und diese sind noch nicht ausgearbeitet.
Fünfzig oder sechzig Verse sind Alles, was er bisher am Messias gearbeitet
hat. Aber dies Wenige ist vortrefflich, heilig und himmlisch. Er ist gleichsam
zwei Personen in einem Leibe. Er denkt nicht daran, was für ein gro¬
ßes Exempel der Messiasdichter der Welt schuldig ist. Daher steht sein Wandel
mit der Messiade ziemlich im Widerspruch: er ist nicht heilig. Als ich ihm
erzählt, daß wir an dem Dichter des Messias einen heiligen, strengen Jüng¬
ling erwartet hätten, fragte er: ob wir geglaubt hätten, er äße Heuschrecken
und wilden Honig? Gott gebe, daß die Leute nicht glauben, alle die himm¬
lischen Gedanken, die in der Messiade sind, seien nur in seiner Phantasie ent¬
standen. Er ist gewiß ein wunderbares Phänomen von einem Menschen:
so groß in seinem Gedicht, so klein in seinem Leben!"

Auch poetisch machte Bodmer seinem Schmerze Luft: "Gläser mit
schäumendem Bacchus, ihr habt von meinem Gesichte ihn in die duftende
Brustwehr genommen! Machet mir Platz, damit ich das Haupt des Heiligen
sehe, welches olympische Strahlen umkränzen! Rauschet nicht, Küsse, damit
ich die göttlichen Lieder vernehme, die von des Heilands Erlösungen klingen."

Ans Klopstocks Briefen hatte sich Bodmer freilich ein anderes Bild machen
müssen: seine Verwunderung ist wohl zu begreifen, etwas stimmte wirklich nicht.
Aber Klopstock selbst hatte kein Arg, er theilte seiner Geliebten ganz unbefangen
seiue Eroberungen mit, und fand keinen Widerspruch darin, die Eine schwärme¬
risch zu lieben und mit den Andern zu liebelu. Die neue Art der Liebe wollte
eben auch ihre Erfahrungen machen wie früher der Pietismus: der spätere


ihn nöthigen mußte, ennuyirt. Keine Neuigkeit über die Staats- und Civil¬
verfassungen von Zürich oder von andern Kantons, keine Neuigkeit, die Alpen
von weitem oder in der Nähe zu betrachten. Wenn Sulzer deu dudum nach
den Schweizerbergen richtete, so war der seine nach den Fenstern der Stadt
gerichtet. Kein Verlangen, meine Bücher zu sehn, viel weniger zu lesen. Herr
Breitinger ist oft zu ihm gekommen, aber bisher hat er ihm nicht einen
Besuch gemacht. Von Lg'M'als und (-on^iioi'.'Ulm weiß er sehr wenig, und
er hat mich nicht selten an seinem Rücken stehen lassen, wenn er Jünglingen
seine ganze Aufmerksamkeit gab. — Erst dann ward er gesprächiger, wenn
er von einem Mädchenbesuch heimkam oder fröhlich getrunken hatte. Er ver¬
steht weder Englisch noch Italienisch. Seine Belesenheit ist schwach und er
fürchtet sich schier vor der Gelehrsamkeit als vor der Pedanterie selbst. Seine
Imagination ist in der höchsten Stärke. Er hat sein suM völlig in seiner
Gewalt. Er hat den Plan bis in die kleinsten Theile ausgedacht. Alles ist
in der besten Proportion angeordnet, das Bessere ist allemal dem Guten vor¬
gezogen. Er arbeitet sehr laugsam. In den letzten zwei Jahren hat er nicht
mehr als zwei Gesänge geschrieben,. und diese sind noch nicht ausgearbeitet.
Fünfzig oder sechzig Verse sind Alles, was er bisher am Messias gearbeitet
hat. Aber dies Wenige ist vortrefflich, heilig und himmlisch. Er ist gleichsam
zwei Personen in einem Leibe. Er denkt nicht daran, was für ein gro¬
ßes Exempel der Messiasdichter der Welt schuldig ist. Daher steht sein Wandel
mit der Messiade ziemlich im Widerspruch: er ist nicht heilig. Als ich ihm
erzählt, daß wir an dem Dichter des Messias einen heiligen, strengen Jüng¬
ling erwartet hätten, fragte er: ob wir geglaubt hätten, er äße Heuschrecken
und wilden Honig? Gott gebe, daß die Leute nicht glauben, alle die himm¬
lischen Gedanken, die in der Messiade sind, seien nur in seiner Phantasie ent¬
standen. Er ist gewiß ein wunderbares Phänomen von einem Menschen:
so groß in seinem Gedicht, so klein in seinem Leben!"

Auch poetisch machte Bodmer seinem Schmerze Luft: „Gläser mit
schäumendem Bacchus, ihr habt von meinem Gesichte ihn in die duftende
Brustwehr genommen! Machet mir Platz, damit ich das Haupt des Heiligen
sehe, welches olympische Strahlen umkränzen! Rauschet nicht, Küsse, damit
ich die göttlichen Lieder vernehme, die von des Heilands Erlösungen klingen."

Ans Klopstocks Briefen hatte sich Bodmer freilich ein anderes Bild machen
müssen: seine Verwunderung ist wohl zu begreifen, etwas stimmte wirklich nicht.
Aber Klopstock selbst hatte kein Arg, er theilte seiner Geliebten ganz unbefangen
seiue Eroberungen mit, und fand keinen Widerspruch darin, die Eine schwärme¬
risch zu lieben und mit den Andern zu liebelu. Die neue Art der Liebe wollte
eben auch ihre Erfahrungen machen wie früher der Pietismus: der spätere


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[0416] ihn nöthigen mußte, ennuyirt. Keine Neuigkeit über die Staats- und Civil¬ verfassungen von Zürich oder von andern Kantons, keine Neuigkeit, die Alpen von weitem oder in der Nähe zu betrachten. Wenn Sulzer deu dudum nach den Schweizerbergen richtete, so war der seine nach den Fenstern der Stadt gerichtet. Kein Verlangen, meine Bücher zu sehn, viel weniger zu lesen. Herr Breitinger ist oft zu ihm gekommen, aber bisher hat er ihm nicht einen Besuch gemacht. Von Lg'M'als und (-on^iioi'.'Ulm weiß er sehr wenig, und er hat mich nicht selten an seinem Rücken stehen lassen, wenn er Jünglingen seine ganze Aufmerksamkeit gab. — Erst dann ward er gesprächiger, wenn er von einem Mädchenbesuch heimkam oder fröhlich getrunken hatte. Er ver¬ steht weder Englisch noch Italienisch. Seine Belesenheit ist schwach und er fürchtet sich schier vor der Gelehrsamkeit als vor der Pedanterie selbst. Seine Imagination ist in der höchsten Stärke. Er hat sein suM völlig in seiner Gewalt. Er hat den Plan bis in die kleinsten Theile ausgedacht. Alles ist in der besten Proportion angeordnet, das Bessere ist allemal dem Guten vor¬ gezogen. Er arbeitet sehr laugsam. In den letzten zwei Jahren hat er nicht mehr als zwei Gesänge geschrieben,. und diese sind noch nicht ausgearbeitet. Fünfzig oder sechzig Verse sind Alles, was er bisher am Messias gearbeitet hat. Aber dies Wenige ist vortrefflich, heilig und himmlisch. Er ist gleichsam zwei Personen in einem Leibe. Er denkt nicht daran, was für ein gro¬ ßes Exempel der Messiasdichter der Welt schuldig ist. Daher steht sein Wandel mit der Messiade ziemlich im Widerspruch: er ist nicht heilig. Als ich ihm erzählt, daß wir an dem Dichter des Messias einen heiligen, strengen Jüng¬ ling erwartet hätten, fragte er: ob wir geglaubt hätten, er äße Heuschrecken und wilden Honig? Gott gebe, daß die Leute nicht glauben, alle die himm¬ lischen Gedanken, die in der Messiade sind, seien nur in seiner Phantasie ent¬ standen. Er ist gewiß ein wunderbares Phänomen von einem Menschen: so groß in seinem Gedicht, so klein in seinem Leben!" Auch poetisch machte Bodmer seinem Schmerze Luft: „Gläser mit schäumendem Bacchus, ihr habt von meinem Gesichte ihn in die duftende Brustwehr genommen! Machet mir Platz, damit ich das Haupt des Heiligen sehe, welches olympische Strahlen umkränzen! Rauschet nicht, Küsse, damit ich die göttlichen Lieder vernehme, die von des Heilands Erlösungen klingen." Ans Klopstocks Briefen hatte sich Bodmer freilich ein anderes Bild machen müssen: seine Verwunderung ist wohl zu begreifen, etwas stimmte wirklich nicht. Aber Klopstock selbst hatte kein Arg, er theilte seiner Geliebten ganz unbefangen seiue Eroberungen mit, und fand keinen Widerspruch darin, die Eine schwärme¬ risch zu lieben und mit den Andern zu liebelu. Die neue Art der Liebe wollte eben auch ihre Erfahrungen machen wie früher der Pietismus: der spätere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/416>, abgerufen am 18.01.2025.