Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Bestimmtheit des Glaubens war immer mehr zersetzt, aber das Bedürfniß des
überquellenden Gefühls war geblieben.

Nun wurde die Abstraktion weiter getrieben, und die Empfindung an sich,
ganz abgesehn von ihrem Gegenstand, heilig gesprochen. Das Eigenste der
innern Welt sollte der echte Lebensgehalt der Dichtung werden.

Der Pietismus hatte die Seele zu einem interessanten Gegenstand gemacht,
aber das Sündenbewußtsein und die Thräne hatten zuletzt einen ganz kon¬
ventionellen Verlauf genommen; dieser Bodensatz einer starken historischen Be¬
wegung hatte zur Bildung des gesammten Volks kein Verhältniß mehr. Da¬
gegen dehnte sich, hauptsächlich durch die Frauen, die Virtuosität der Empfin¬
dung weit über den Kreis des eigentlichen Pietismus hin ans; man gab sich
ihr nicht mehr unbefangen hin, man reflektirte darüber: man freute sich herz¬
lich, wenn man ein recht bedeutendes Gefühl in sich entdeckte, und hatte das
Bedürfniß, sich darüber auszusprechen. Das Briefpapier, welches vorher nur
gelehrten Untersuchungen gedient, wurde nun mit der Geschichte von Freuden-
und Schmerzensthränen angefüllt, die man an sich erlebt hatte oder erlebt
haben wollte. Der Ausdruck war noch unbeholfen, aber diesen Mangel er¬
setzte man durch Ausführlichkeit.

Die Stimmung des Pietismus verflüchtigte sich und drang miasmatisch
in andre Bildungsformen ein. Es kommen die "schonen Seelen", die mit dem
Glauben nicht anfangen, sondern nach dem Glauben sich sehnen, und in dieser
Sehnsucht den Stempel einer vornehmen, begnadigten Natur in sich tragen.
Wer die Kraft des Gefühls bis zur Vision zu steigern wußte, hieß früher
Wiedergeborner: jetzt erscheint er als Seher, er schafft sich seine Religion.

Bisher hatte die Religion von der Poesie nur das Kirchenlied gelten
lassen: nun wird von beiden Seiten eine innigere Verbindung gesucht, die Re¬
ligion soll den Inhalt, die Poesie die Form geben. Infolge dessen modificirt
die Religion ihren Inhalt nach poetischen, die Poesie ihre Form nach religiö¬
sen Bedürfnissen. --

Alle bisherigen Kunstlehrer sahen in der künstlerischen Thätigkeit ein eigent¬
liches Machen: wie man bei dem Bildhauer zunächst nur den Meißel beo¬
bachtete, so erwartete man vom Dichter das bewußte, zweckvolle Behandeln
der Sprache.

Der entscheidende Satz der neuen Aesthetik lautete: um große Empfindun¬
gen, große Leidenschaften darzustellen, muß der Dichter große Empfindungen,
große Leidenschaften haben. "Der Dichter schildert nur dann das Lei¬
den wirksam, wenn er selbst gelitten hat." Nur ein heiliges Gemüth
bringt heilige Dichtungen hervor. Was früher die Pietisten vom Priester ver¬
langten, wurde jetzt dem Dichter geboten: der wahre Dichter muß inspirirt


Bestimmtheit des Glaubens war immer mehr zersetzt, aber das Bedürfniß des
überquellenden Gefühls war geblieben.

Nun wurde die Abstraktion weiter getrieben, und die Empfindung an sich,
ganz abgesehn von ihrem Gegenstand, heilig gesprochen. Das Eigenste der
innern Welt sollte der echte Lebensgehalt der Dichtung werden.

Der Pietismus hatte die Seele zu einem interessanten Gegenstand gemacht,
aber das Sündenbewußtsein und die Thräne hatten zuletzt einen ganz kon¬
ventionellen Verlauf genommen; dieser Bodensatz einer starken historischen Be¬
wegung hatte zur Bildung des gesammten Volks kein Verhältniß mehr. Da¬
gegen dehnte sich, hauptsächlich durch die Frauen, die Virtuosität der Empfin¬
dung weit über den Kreis des eigentlichen Pietismus hin ans; man gab sich
ihr nicht mehr unbefangen hin, man reflektirte darüber: man freute sich herz¬
lich, wenn man ein recht bedeutendes Gefühl in sich entdeckte, und hatte das
Bedürfniß, sich darüber auszusprechen. Das Briefpapier, welches vorher nur
gelehrten Untersuchungen gedient, wurde nun mit der Geschichte von Freuden-
und Schmerzensthränen angefüllt, die man an sich erlebt hatte oder erlebt
haben wollte. Der Ausdruck war noch unbeholfen, aber diesen Mangel er¬
setzte man durch Ausführlichkeit.

Die Stimmung des Pietismus verflüchtigte sich und drang miasmatisch
in andre Bildungsformen ein. Es kommen die „schonen Seelen", die mit dem
Glauben nicht anfangen, sondern nach dem Glauben sich sehnen, und in dieser
Sehnsucht den Stempel einer vornehmen, begnadigten Natur in sich tragen.
Wer die Kraft des Gefühls bis zur Vision zu steigern wußte, hieß früher
Wiedergeborner: jetzt erscheint er als Seher, er schafft sich seine Religion.

Bisher hatte die Religion von der Poesie nur das Kirchenlied gelten
lassen: nun wird von beiden Seiten eine innigere Verbindung gesucht, die Re¬
ligion soll den Inhalt, die Poesie die Form geben. Infolge dessen modificirt
die Religion ihren Inhalt nach poetischen, die Poesie ihre Form nach religiö¬
sen Bedürfnissen. —

Alle bisherigen Kunstlehrer sahen in der künstlerischen Thätigkeit ein eigent¬
liches Machen: wie man bei dem Bildhauer zunächst nur den Meißel beo¬
bachtete, so erwartete man vom Dichter das bewußte, zweckvolle Behandeln
der Sprache.

Der entscheidende Satz der neuen Aesthetik lautete: um große Empfindun¬
gen, große Leidenschaften darzustellen, muß der Dichter große Empfindungen,
große Leidenschaften haben. „Der Dichter schildert nur dann das Lei¬
den wirksam, wenn er selbst gelitten hat." Nur ein heiliges Gemüth
bringt heilige Dichtungen hervor. Was früher die Pietisten vom Priester ver¬
langten, wurde jetzt dem Dichter geboten: der wahre Dichter muß inspirirt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0370" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/139663"/>
            <p xml:id="ID_1066" prev="#ID_1065"> Bestimmtheit des Glaubens war immer mehr zersetzt, aber das Bedürfniß des<lb/>
überquellenden Gefühls war geblieben.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1067"> Nun wurde die Abstraktion weiter getrieben, und die Empfindung an sich,<lb/>
ganz abgesehn von ihrem Gegenstand, heilig gesprochen. Das Eigenste der<lb/>
innern Welt sollte der echte Lebensgehalt der Dichtung werden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1068"> Der Pietismus hatte die Seele zu einem interessanten Gegenstand gemacht,<lb/>
aber das Sündenbewußtsein und die Thräne hatten zuletzt einen ganz kon¬<lb/>
ventionellen Verlauf genommen; dieser Bodensatz einer starken historischen Be¬<lb/>
wegung hatte zur Bildung des gesammten Volks kein Verhältniß mehr. Da¬<lb/>
gegen dehnte sich, hauptsächlich durch die Frauen, die Virtuosität der Empfin¬<lb/>
dung weit über den Kreis des eigentlichen Pietismus hin ans; man gab sich<lb/>
ihr nicht mehr unbefangen hin, man reflektirte darüber: man freute sich herz¬<lb/>
lich, wenn man ein recht bedeutendes Gefühl in sich entdeckte, und hatte das<lb/>
Bedürfniß, sich darüber auszusprechen. Das Briefpapier, welches vorher nur<lb/>
gelehrten Untersuchungen gedient, wurde nun mit der Geschichte von Freuden-<lb/>
und Schmerzensthränen angefüllt, die man an sich erlebt hatte oder erlebt<lb/>
haben wollte. Der Ausdruck war noch unbeholfen, aber diesen Mangel er¬<lb/>
setzte man durch Ausführlichkeit.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1069"> Die Stimmung des Pietismus verflüchtigte sich und drang miasmatisch<lb/>
in andre Bildungsformen ein. Es kommen die &#x201E;schonen Seelen", die mit dem<lb/>
Glauben nicht anfangen, sondern nach dem Glauben sich sehnen, und in dieser<lb/>
Sehnsucht den Stempel einer vornehmen, begnadigten Natur in sich tragen.<lb/>
Wer die Kraft des Gefühls bis zur Vision zu steigern wußte, hieß früher<lb/>
Wiedergeborner: jetzt erscheint er als Seher, er schafft sich seine Religion.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1070"> Bisher hatte die Religion von der Poesie nur das Kirchenlied gelten<lb/>
lassen: nun wird von beiden Seiten eine innigere Verbindung gesucht, die Re¬<lb/>
ligion soll den Inhalt, die Poesie die Form geben. Infolge dessen modificirt<lb/>
die Religion ihren Inhalt nach poetischen, die Poesie ihre Form nach religiö¬<lb/>
sen Bedürfnissen. &#x2014;</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1071"> Alle bisherigen Kunstlehrer sahen in der künstlerischen Thätigkeit ein eigent¬<lb/>
liches Machen: wie man bei dem Bildhauer zunächst nur den Meißel beo¬<lb/>
bachtete, so erwartete man vom Dichter das bewußte, zweckvolle Behandeln<lb/>
der Sprache.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1072" next="#ID_1073"> Der entscheidende Satz der neuen Aesthetik lautete: um große Empfindun¬<lb/>
gen, große Leidenschaften darzustellen, muß der Dichter große Empfindungen,<lb/>
große Leidenschaften haben. &#x201E;Der Dichter schildert nur dann das Lei¬<lb/>
den wirksam, wenn er selbst gelitten hat." Nur ein heiliges Gemüth<lb/>
bringt heilige Dichtungen hervor. Was früher die Pietisten vom Priester ver¬<lb/>
langten, wurde jetzt dem Dichter geboten: der wahre Dichter muß inspirirt</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0370] Bestimmtheit des Glaubens war immer mehr zersetzt, aber das Bedürfniß des überquellenden Gefühls war geblieben. Nun wurde die Abstraktion weiter getrieben, und die Empfindung an sich, ganz abgesehn von ihrem Gegenstand, heilig gesprochen. Das Eigenste der innern Welt sollte der echte Lebensgehalt der Dichtung werden. Der Pietismus hatte die Seele zu einem interessanten Gegenstand gemacht, aber das Sündenbewußtsein und die Thräne hatten zuletzt einen ganz kon¬ ventionellen Verlauf genommen; dieser Bodensatz einer starken historischen Be¬ wegung hatte zur Bildung des gesammten Volks kein Verhältniß mehr. Da¬ gegen dehnte sich, hauptsächlich durch die Frauen, die Virtuosität der Empfin¬ dung weit über den Kreis des eigentlichen Pietismus hin ans; man gab sich ihr nicht mehr unbefangen hin, man reflektirte darüber: man freute sich herz¬ lich, wenn man ein recht bedeutendes Gefühl in sich entdeckte, und hatte das Bedürfniß, sich darüber auszusprechen. Das Briefpapier, welches vorher nur gelehrten Untersuchungen gedient, wurde nun mit der Geschichte von Freuden- und Schmerzensthränen angefüllt, die man an sich erlebt hatte oder erlebt haben wollte. Der Ausdruck war noch unbeholfen, aber diesen Mangel er¬ setzte man durch Ausführlichkeit. Die Stimmung des Pietismus verflüchtigte sich und drang miasmatisch in andre Bildungsformen ein. Es kommen die „schonen Seelen", die mit dem Glauben nicht anfangen, sondern nach dem Glauben sich sehnen, und in dieser Sehnsucht den Stempel einer vornehmen, begnadigten Natur in sich tragen. Wer die Kraft des Gefühls bis zur Vision zu steigern wußte, hieß früher Wiedergeborner: jetzt erscheint er als Seher, er schafft sich seine Religion. Bisher hatte die Religion von der Poesie nur das Kirchenlied gelten lassen: nun wird von beiden Seiten eine innigere Verbindung gesucht, die Re¬ ligion soll den Inhalt, die Poesie die Form geben. Infolge dessen modificirt die Religion ihren Inhalt nach poetischen, die Poesie ihre Form nach religiö¬ sen Bedürfnissen. — Alle bisherigen Kunstlehrer sahen in der künstlerischen Thätigkeit ein eigent¬ liches Machen: wie man bei dem Bildhauer zunächst nur den Meißel beo¬ bachtete, so erwartete man vom Dichter das bewußte, zweckvolle Behandeln der Sprache. Der entscheidende Satz der neuen Aesthetik lautete: um große Empfindun¬ gen, große Leidenschaften darzustellen, muß der Dichter große Empfindungen, große Leidenschaften haben. „Der Dichter schildert nur dann das Lei¬ den wirksam, wenn er selbst gelitten hat." Nur ein heiliges Gemüth bringt heilige Dichtungen hervor. Was früher die Pietisten vom Priester ver¬ langten, wurde jetzt dem Dichter geboten: der wahre Dichter muß inspirirt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/370
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/370>, abgerufen am 27.09.2024.