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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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herausgegeben, welcher er einen Abriß seines wechselvollen Lebens vorausge¬
schickt hat. Er beginnt seine Biographie mit den Worten: "Als ich in Kalk¬
horst, einem Dorfe in Mecklenburg-Schwerin, meinem Geburtsorte, im Alter
von 10 Jahren meinem Vater zu Weihnachten 1832 als Geschenk eine in
schlechtem Latein geschriebene Darstellung des trojanischen Krieges und der
Abenteuer Odysseus und Agamenmons überreichte, dachte ich nicht im Ent¬
ferntesten daran, daß ich 36 Jahre später vor das Publikum mit einem Buche
über denselben Gegenstand treten würde." Heute könnte Schliemann noch hin¬
zufügen: "und daß ich 44 Jahre später, fast um dieselbe Zeit, eben denselben
Agamemnon aus seiner Grabesruhe an das Tageslicht ziehen würde, den ich
damals in schlechtem Latein verherrlicht." Die Phantasie des Knaben beschäf¬
tigte sich also schon in früher Zeit mit den Thaten der homerischen Helden;
aber die Verhältnisse seines Vaters gestatteten ihm nicht, wie er gewünscht,
die gelehrte Laufbahn einzuschlagen. Mit 14 Jahren trat der junge Schlie¬
mann in den Laden eines Materialienwaarenhändlers in Fürstenberg ein.
Seine Thätigkeit bestand darin, daß er täglich von 5 Uhr Morgens bis 11 Uhr
Abends Häringe, Butter, Branntwein, Milch und Salz verkaufte und Kar¬
toffeln für die Destillation zerstampfte. Eines Tages trat ein betrunkener
Müller in die Boutique, der Sohn eines Predigers, der wegen schlechter Auf¬
führung von dem Gymnasium weggejagt und dann von seinem Vater in eine
Mühle gesteckt worden war. Dieser Mensch kam zufällig auf den Gedanken,
hundert Verse aus dem Homer zu deklamiren. Sie machten auf den jungen
Schliemann einen so tiefen Eindruck, daß er bittere Thränen über sein trau¬
riges Loos vergoß und seit diesem Augenblicke niemals aufhörte, Gott zu
bitten, ihn eines Tages griechisch lernen zu lassen.

Im Jahre 1841 wurde er endlich aus dem Häringsladen befreit. Er
hob eines Tages ein schweres Branntweinsaß und verletzte sich dabei die Brust.
Nicht mehr fähig, schwere Arbeiten zu verrichten, begab er sich nach Hamburg
und verbarg sich als Schiffsjunge an Bord eines nach Venezuela bestimmten
Kauffahrers. Am 28. November verließ das Schiff Hamburg; bereits am 12.
Dezember scheiterte es an der Küste von Texel. Schliemann schlug sich nach
Amsterdam durch, wo er nach mannigfachen Nöthen eine Stelle als Comptoir¬
diener mit einem jährlichen Gehalte von 800 Fras. fand. Jetzt konnte er
seinem Bildungsdrcmge genügen. Er opferte ihm die Hälfte seiner bescheidenen
Einkünfte. Für 8 Fres. monatlich wohnte er in einer elenden Dachstube ohne
Ofen und aß für 4 Sons zu Mittag. Er lernte zunächst englisch und dann
in 6 Monaten französisch. Mit den anderen Sprachen ging es noch schneller
auf das holländische, spanische, italienische und portugiesische verwendete er je
sechs Wochen. Durch die Vermittelung edelmüthiger Freunde erhielt er nach


herausgegeben, welcher er einen Abriß seines wechselvollen Lebens vorausge¬
schickt hat. Er beginnt seine Biographie mit den Worten: „Als ich in Kalk¬
horst, einem Dorfe in Mecklenburg-Schwerin, meinem Geburtsorte, im Alter
von 10 Jahren meinem Vater zu Weihnachten 1832 als Geschenk eine in
schlechtem Latein geschriebene Darstellung des trojanischen Krieges und der
Abenteuer Odysseus und Agamenmons überreichte, dachte ich nicht im Ent¬
ferntesten daran, daß ich 36 Jahre später vor das Publikum mit einem Buche
über denselben Gegenstand treten würde." Heute könnte Schliemann noch hin¬
zufügen: „und daß ich 44 Jahre später, fast um dieselbe Zeit, eben denselben
Agamemnon aus seiner Grabesruhe an das Tageslicht ziehen würde, den ich
damals in schlechtem Latein verherrlicht." Die Phantasie des Knaben beschäf¬
tigte sich also schon in früher Zeit mit den Thaten der homerischen Helden;
aber die Verhältnisse seines Vaters gestatteten ihm nicht, wie er gewünscht,
die gelehrte Laufbahn einzuschlagen. Mit 14 Jahren trat der junge Schlie¬
mann in den Laden eines Materialienwaarenhändlers in Fürstenberg ein.
Seine Thätigkeit bestand darin, daß er täglich von 5 Uhr Morgens bis 11 Uhr
Abends Häringe, Butter, Branntwein, Milch und Salz verkaufte und Kar¬
toffeln für die Destillation zerstampfte. Eines Tages trat ein betrunkener
Müller in die Boutique, der Sohn eines Predigers, der wegen schlechter Auf¬
führung von dem Gymnasium weggejagt und dann von seinem Vater in eine
Mühle gesteckt worden war. Dieser Mensch kam zufällig auf den Gedanken,
hundert Verse aus dem Homer zu deklamiren. Sie machten auf den jungen
Schliemann einen so tiefen Eindruck, daß er bittere Thränen über sein trau¬
riges Loos vergoß und seit diesem Augenblicke niemals aufhörte, Gott zu
bitten, ihn eines Tages griechisch lernen zu lassen.

Im Jahre 1841 wurde er endlich aus dem Häringsladen befreit. Er
hob eines Tages ein schweres Branntweinsaß und verletzte sich dabei die Brust.
Nicht mehr fähig, schwere Arbeiten zu verrichten, begab er sich nach Hamburg
und verbarg sich als Schiffsjunge an Bord eines nach Venezuela bestimmten
Kauffahrers. Am 28. November verließ das Schiff Hamburg; bereits am 12.
Dezember scheiterte es an der Küste von Texel. Schliemann schlug sich nach
Amsterdam durch, wo er nach mannigfachen Nöthen eine Stelle als Comptoir¬
diener mit einem jährlichen Gehalte von 800 Fras. fand. Jetzt konnte er
seinem Bildungsdrcmge genügen. Er opferte ihm die Hälfte seiner bescheidenen
Einkünfte. Für 8 Fres. monatlich wohnte er in einer elenden Dachstube ohne
Ofen und aß für 4 Sons zu Mittag. Er lernte zunächst englisch und dann
in 6 Monaten französisch. Mit den anderen Sprachen ging es noch schneller
auf das holländische, spanische, italienische und portugiesische verwendete er je
sechs Wochen. Durch die Vermittelung edelmüthiger Freunde erhielt er nach


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[0292] herausgegeben, welcher er einen Abriß seines wechselvollen Lebens vorausge¬ schickt hat. Er beginnt seine Biographie mit den Worten: „Als ich in Kalk¬ horst, einem Dorfe in Mecklenburg-Schwerin, meinem Geburtsorte, im Alter von 10 Jahren meinem Vater zu Weihnachten 1832 als Geschenk eine in schlechtem Latein geschriebene Darstellung des trojanischen Krieges und der Abenteuer Odysseus und Agamenmons überreichte, dachte ich nicht im Ent¬ ferntesten daran, daß ich 36 Jahre später vor das Publikum mit einem Buche über denselben Gegenstand treten würde." Heute könnte Schliemann noch hin¬ zufügen: „und daß ich 44 Jahre später, fast um dieselbe Zeit, eben denselben Agamemnon aus seiner Grabesruhe an das Tageslicht ziehen würde, den ich damals in schlechtem Latein verherrlicht." Die Phantasie des Knaben beschäf¬ tigte sich also schon in früher Zeit mit den Thaten der homerischen Helden; aber die Verhältnisse seines Vaters gestatteten ihm nicht, wie er gewünscht, die gelehrte Laufbahn einzuschlagen. Mit 14 Jahren trat der junge Schlie¬ mann in den Laden eines Materialienwaarenhändlers in Fürstenberg ein. Seine Thätigkeit bestand darin, daß er täglich von 5 Uhr Morgens bis 11 Uhr Abends Häringe, Butter, Branntwein, Milch und Salz verkaufte und Kar¬ toffeln für die Destillation zerstampfte. Eines Tages trat ein betrunkener Müller in die Boutique, der Sohn eines Predigers, der wegen schlechter Auf¬ führung von dem Gymnasium weggejagt und dann von seinem Vater in eine Mühle gesteckt worden war. Dieser Mensch kam zufällig auf den Gedanken, hundert Verse aus dem Homer zu deklamiren. Sie machten auf den jungen Schliemann einen so tiefen Eindruck, daß er bittere Thränen über sein trau¬ riges Loos vergoß und seit diesem Augenblicke niemals aufhörte, Gott zu bitten, ihn eines Tages griechisch lernen zu lassen. Im Jahre 1841 wurde er endlich aus dem Häringsladen befreit. Er hob eines Tages ein schweres Branntweinsaß und verletzte sich dabei die Brust. Nicht mehr fähig, schwere Arbeiten zu verrichten, begab er sich nach Hamburg und verbarg sich als Schiffsjunge an Bord eines nach Venezuela bestimmten Kauffahrers. Am 28. November verließ das Schiff Hamburg; bereits am 12. Dezember scheiterte es an der Küste von Texel. Schliemann schlug sich nach Amsterdam durch, wo er nach mannigfachen Nöthen eine Stelle als Comptoir¬ diener mit einem jährlichen Gehalte von 800 Fras. fand. Jetzt konnte er seinem Bildungsdrcmge genügen. Er opferte ihm die Hälfte seiner bescheidenen Einkünfte. Für 8 Fres. monatlich wohnte er in einer elenden Dachstube ohne Ofen und aß für 4 Sons zu Mittag. Er lernte zunächst englisch und dann in 6 Monaten französisch. Mit den anderen Sprachen ging es noch schneller auf das holländische, spanische, italienische und portugiesische verwendete er je sechs Wochen. Durch die Vermittelung edelmüthiger Freunde erhielt er nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/292>, abgerufen am 20.10.2024.