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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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der Schmuz damit vornimmt, bereits solche Fortschritte gemacht, daß es ver¬
geblich wäre, dem weiteren Zersetzungsprozeß noch Einhalt thun zu wollen.
Nun heißt es: Fahre hin! Und das Buch gleitet hinab in den Strom der
tausend anderen, bei denen es nicht mehr drauf ankommt, wieviel Schmuz der
einzelne Entleiher zu dem Schmuze hinzuthut, den seine Vorgänger an dem
Buche zurückgelassen haben, bis dann endlich ein Zeitpunkt kommt, -- er tritt
bei vielbenutzten Bücher" schon nach zwei, drei Jahren ein -- wo bei einer
Berührung zwischen Buch und Entleiher das Beschmuzen fortan auf Gegen¬
seitigkeit beruht.

Die mannichfachsten Unarten aber wirken zusammen, um diesen Ver-
wesungsprozeß von Büchern öffentlicher Bibliotheken noch zu beschleunigen.
Vor allem die Art des Transportes. Bibliotheksbesucher haben hierin sehr
verschiedene Neigungen. Der eine schleppt, um ein paar lumpiger Zitate willen,
die er in wenigen Minuten auf der Bibliothek selbst erledigen könnte, die
schwere Weisheit von Folianten dnrch die Straßen; er sieht sich eben gern
Bücher tragen, wie jeuer Backfisch, der zur Klavierstunde eilt und mit Stolz
seiue Notenmappe, auf deren Vorderseite in goldner Lapidarschrift "Musik"
eingeprägt ist, vor sich herträgt. Ein anderer trägt seine Bücher wie jede
andere Last des Lebens und denkt sich eben nicht viel dabei. Noch andere
aber glauben sich etwas zu vergeben, wenn sie mit einem Buche auf der
Straße gehen sollten. Hat jemand schon einmal einen Offizier in Uniform
ein Buch tragen sehen? Gewiß nicht. Jeder Bibliothekar weiß, daß der
Herr Leutnant seine Bücher wohl auswählt, aber nie nach Hause trägt, son¬
dern daß dies der Diener besorgt. Aber auch unter Jüngern der Wissenschaft
giebt es einzelne, die in diesem Punkte Offiziersbegriffe haben; da es ihnen
aber am Diener fehlt, so transportiren sie die Bücher -- in den Kleidertaschen.
Nun, durch nichts werden Bücher schneller ruinirt: die Ecken werden stumpf,
die Schalen abgescheuert, Schlüssel oder Messer, die man daneben in der
Tasche trägt, schieben sich zwischen die Deckel und zerknittern die Blätter des
Buches. Doch auch das offene Tragen kann verhüngnißvoll werden. An
Regentagen geschieht es regelmäßig, daß Bücher total naß, ja oft mit halb
durchweichten Pappdeckeln ans die Bibliothek zurückgebracht werdeu -- un¬
glaublich! und doch wird jeder Bibliothekar es bestätigen können. Setzt man
die gedankenlosen Ueberbringer zur Rede, so gelingt es nur in seltenen Fällen,
ihnen ihre haarsträubende Dummheit -- anders kann man's nicht bezeichnen --
begreiflich zu machen. In der Regel hört man die Ausrede: "Entschuldigen
Sie, es regnet." Faktum, keine Erfindung.

Sollen wir noch aufzählen, wie die Bücher zu Hause bei der Benutzung
maltraitirt werden? Wie der eine, der die an sich ganz löbliche Sitte hat,


der Schmuz damit vornimmt, bereits solche Fortschritte gemacht, daß es ver¬
geblich wäre, dem weiteren Zersetzungsprozeß noch Einhalt thun zu wollen.
Nun heißt es: Fahre hin! Und das Buch gleitet hinab in den Strom der
tausend anderen, bei denen es nicht mehr drauf ankommt, wieviel Schmuz der
einzelne Entleiher zu dem Schmuze hinzuthut, den seine Vorgänger an dem
Buche zurückgelassen haben, bis dann endlich ein Zeitpunkt kommt, — er tritt
bei vielbenutzten Bücher» schon nach zwei, drei Jahren ein — wo bei einer
Berührung zwischen Buch und Entleiher das Beschmuzen fortan auf Gegen¬
seitigkeit beruht.

Die mannichfachsten Unarten aber wirken zusammen, um diesen Ver-
wesungsprozeß von Büchern öffentlicher Bibliotheken noch zu beschleunigen.
Vor allem die Art des Transportes. Bibliotheksbesucher haben hierin sehr
verschiedene Neigungen. Der eine schleppt, um ein paar lumpiger Zitate willen,
die er in wenigen Minuten auf der Bibliothek selbst erledigen könnte, die
schwere Weisheit von Folianten dnrch die Straßen; er sieht sich eben gern
Bücher tragen, wie jeuer Backfisch, der zur Klavierstunde eilt und mit Stolz
seiue Notenmappe, auf deren Vorderseite in goldner Lapidarschrift „Musik"
eingeprägt ist, vor sich herträgt. Ein anderer trägt seine Bücher wie jede
andere Last des Lebens und denkt sich eben nicht viel dabei. Noch andere
aber glauben sich etwas zu vergeben, wenn sie mit einem Buche auf der
Straße gehen sollten. Hat jemand schon einmal einen Offizier in Uniform
ein Buch tragen sehen? Gewiß nicht. Jeder Bibliothekar weiß, daß der
Herr Leutnant seine Bücher wohl auswählt, aber nie nach Hause trägt, son¬
dern daß dies der Diener besorgt. Aber auch unter Jüngern der Wissenschaft
giebt es einzelne, die in diesem Punkte Offiziersbegriffe haben; da es ihnen
aber am Diener fehlt, so transportiren sie die Bücher — in den Kleidertaschen.
Nun, durch nichts werden Bücher schneller ruinirt: die Ecken werden stumpf,
die Schalen abgescheuert, Schlüssel oder Messer, die man daneben in der
Tasche trägt, schieben sich zwischen die Deckel und zerknittern die Blätter des
Buches. Doch auch das offene Tragen kann verhüngnißvoll werden. An
Regentagen geschieht es regelmäßig, daß Bücher total naß, ja oft mit halb
durchweichten Pappdeckeln ans die Bibliothek zurückgebracht werdeu — un¬
glaublich! und doch wird jeder Bibliothekar es bestätigen können. Setzt man
die gedankenlosen Ueberbringer zur Rede, so gelingt es nur in seltenen Fällen,
ihnen ihre haarsträubende Dummheit — anders kann man's nicht bezeichnen —
begreiflich zu machen. In der Regel hört man die Ausrede: „Entschuldigen
Sie, es regnet." Faktum, keine Erfindung.

Sollen wir noch aufzählen, wie die Bücher zu Hause bei der Benutzung
maltraitirt werden? Wie der eine, der die an sich ganz löbliche Sitte hat,


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[0263] der Schmuz damit vornimmt, bereits solche Fortschritte gemacht, daß es ver¬ geblich wäre, dem weiteren Zersetzungsprozeß noch Einhalt thun zu wollen. Nun heißt es: Fahre hin! Und das Buch gleitet hinab in den Strom der tausend anderen, bei denen es nicht mehr drauf ankommt, wieviel Schmuz der einzelne Entleiher zu dem Schmuze hinzuthut, den seine Vorgänger an dem Buche zurückgelassen haben, bis dann endlich ein Zeitpunkt kommt, — er tritt bei vielbenutzten Bücher» schon nach zwei, drei Jahren ein — wo bei einer Berührung zwischen Buch und Entleiher das Beschmuzen fortan auf Gegen¬ seitigkeit beruht. Die mannichfachsten Unarten aber wirken zusammen, um diesen Ver- wesungsprozeß von Büchern öffentlicher Bibliotheken noch zu beschleunigen. Vor allem die Art des Transportes. Bibliotheksbesucher haben hierin sehr verschiedene Neigungen. Der eine schleppt, um ein paar lumpiger Zitate willen, die er in wenigen Minuten auf der Bibliothek selbst erledigen könnte, die schwere Weisheit von Folianten dnrch die Straßen; er sieht sich eben gern Bücher tragen, wie jeuer Backfisch, der zur Klavierstunde eilt und mit Stolz seiue Notenmappe, auf deren Vorderseite in goldner Lapidarschrift „Musik" eingeprägt ist, vor sich herträgt. Ein anderer trägt seine Bücher wie jede andere Last des Lebens und denkt sich eben nicht viel dabei. Noch andere aber glauben sich etwas zu vergeben, wenn sie mit einem Buche auf der Straße gehen sollten. Hat jemand schon einmal einen Offizier in Uniform ein Buch tragen sehen? Gewiß nicht. Jeder Bibliothekar weiß, daß der Herr Leutnant seine Bücher wohl auswählt, aber nie nach Hause trägt, son¬ dern daß dies der Diener besorgt. Aber auch unter Jüngern der Wissenschaft giebt es einzelne, die in diesem Punkte Offiziersbegriffe haben; da es ihnen aber am Diener fehlt, so transportiren sie die Bücher — in den Kleidertaschen. Nun, durch nichts werden Bücher schneller ruinirt: die Ecken werden stumpf, die Schalen abgescheuert, Schlüssel oder Messer, die man daneben in der Tasche trägt, schieben sich zwischen die Deckel und zerknittern die Blätter des Buches. Doch auch das offene Tragen kann verhüngnißvoll werden. An Regentagen geschieht es regelmäßig, daß Bücher total naß, ja oft mit halb durchweichten Pappdeckeln ans die Bibliothek zurückgebracht werdeu — un¬ glaublich! und doch wird jeder Bibliothekar es bestätigen können. Setzt man die gedankenlosen Ueberbringer zur Rede, so gelingt es nur in seltenen Fällen, ihnen ihre haarsträubende Dummheit — anders kann man's nicht bezeichnen — begreiflich zu machen. In der Regel hört man die Ausrede: „Entschuldigen Sie, es regnet." Faktum, keine Erfindung. Sollen wir noch aufzählen, wie die Bücher zu Hause bei der Benutzung maltraitirt werden? Wie der eine, der die an sich ganz löbliche Sitte hat,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/263>, abgerufen am 27.09.2024.