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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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und kannte nur einen Zweck dieses Daseins: den raffinirtesten, sinnlichen Genuß
in jeder Richtung. -- Aber selbst wenn eine äußerlich hoch kultivirte Zeit bei
dieser Stufe noch nicht angelangt ist -- und die unsrige ist es nicht --, sie
hat Vorzüge verloren und verlieren müssen, die eine frühere, weniger entwickelte
besaß, eben weil sie materiell nicht so weit fortgeschritten war. Das sichere
Bewußtsein der Tüchtigkeit im Kleinen, der sittliche Halt, welchen dem Einzelnen
ein fest umhegter, wenn auch enger Kreis gab, die unmittelbare, naive Empfin¬
dung für das Leben der Natur und das Leben mit ihr und in ihr, die freie
Aeußerung starker, nngebrochner Gefühle, dies Alles, was uns die eigene Vor¬
zeit fo vertraulich, so heimlich macht, was doch wieder dann und wann die
Sehnsucht erweckt wie nach einem verlornen Lande, dies Alles geht verloren,
unwiederbringlich verloren, so bald der gesteigerte Verkehr diese kleinen Kreise
zerstört, die schärfste Anspannung aller Kräfte verlangt, Alles hineinreißt in
den Wirbel des Wettbewerbes. Uns ist es verloren, aber wir werden dann,
wenn wir diese Vorzüge einer früheren Stufe unseres Volkslebens bedenken,
uicht geneigt sein, sie nur deswillen geringer zu schätzen, weil sie Güter nicht
besaß, die wir haben. Denn wir sagen uus: wir haben Güter verloren und
verlieren müssen, die sie besaß; wir erkennen, daß Vorzüge und Mängel
in jeder Entwickluugsepoche wechseln, aber jede an beiden ihr vvllgerüttelt
Maß erhält.

Indem die Geschichte dies lehrt, indem sie bewahrt vor der Ueberschätzung
der Gegenwart und dem Techniker dazu verhilft, das richtige Urtheil zu ge¬
winne" über die eigne Zeit und über die Stellung seiner Wissenschaft in ihr
und im ganzen Entwicklungsgange der Menschheit, wird sie ihm anch erleichtern,
sein sittliches Verhältniß zu dein Ganzen zu erkennen und zu ordnen, in
welchem und für welches er dereinst zu wirken berufen sein wird.

Aber welches ist dieses Ganze?

Die Wissenschaft ist kosmopolitisch, keine mehr als die Naturwissenschaft
und die auf ihr fußende Technik. Ihre Leistungen tragen keine nationale
Signatur wie die der Kunst, ihre Jünger können dieselben Kenntnisse und Er¬
fahrungen in allen fünf Welttheilen verwerthen. Es ist deshalb keineswegs
undenkbar, daß sie gleichmüthig heute dem, morgen jenem Volke ihre Thätigkeit
widmen, sich als Weltbürger fühlen, die überall zu Hause sind, und deshalb
nirgends eine Heimath haben. Dies scheint ja doch auch starken Strömungen
unsrer Zeit zu entsprechen. Hört man doch fortwährend von dem Niederreißen
der Schranken zwischen den Völkern, von der Verbrüderung, dem friedlichen
Wetteifer der Nationen, die an die Stelle blutiger Kriege treten sollen n. s. f.
In diesen Reden mischt sich Richtiges und Grnndverkehrtes. Gewiß sollen die
äußerlichen Schranken fallen, schwinden sollen die gehässigen und thörichten


und kannte nur einen Zweck dieses Daseins: den raffinirtesten, sinnlichen Genuß
in jeder Richtung. — Aber selbst wenn eine äußerlich hoch kultivirte Zeit bei
dieser Stufe noch nicht angelangt ist — und die unsrige ist es nicht —, sie
hat Vorzüge verloren und verlieren müssen, die eine frühere, weniger entwickelte
besaß, eben weil sie materiell nicht so weit fortgeschritten war. Das sichere
Bewußtsein der Tüchtigkeit im Kleinen, der sittliche Halt, welchen dem Einzelnen
ein fest umhegter, wenn auch enger Kreis gab, die unmittelbare, naive Empfin¬
dung für das Leben der Natur und das Leben mit ihr und in ihr, die freie
Aeußerung starker, nngebrochner Gefühle, dies Alles, was uns die eigene Vor¬
zeit fo vertraulich, so heimlich macht, was doch wieder dann und wann die
Sehnsucht erweckt wie nach einem verlornen Lande, dies Alles geht verloren,
unwiederbringlich verloren, so bald der gesteigerte Verkehr diese kleinen Kreise
zerstört, die schärfste Anspannung aller Kräfte verlangt, Alles hineinreißt in
den Wirbel des Wettbewerbes. Uns ist es verloren, aber wir werden dann,
wenn wir diese Vorzüge einer früheren Stufe unseres Volkslebens bedenken,
uicht geneigt sein, sie nur deswillen geringer zu schätzen, weil sie Güter nicht
besaß, die wir haben. Denn wir sagen uus: wir haben Güter verloren und
verlieren müssen, die sie besaß; wir erkennen, daß Vorzüge und Mängel
in jeder Entwickluugsepoche wechseln, aber jede an beiden ihr vvllgerüttelt
Maß erhält.

Indem die Geschichte dies lehrt, indem sie bewahrt vor der Ueberschätzung
der Gegenwart und dem Techniker dazu verhilft, das richtige Urtheil zu ge¬
winne« über die eigne Zeit und über die Stellung seiner Wissenschaft in ihr
und im ganzen Entwicklungsgange der Menschheit, wird sie ihm anch erleichtern,
sein sittliches Verhältniß zu dein Ganzen zu erkennen und zu ordnen, in
welchem und für welches er dereinst zu wirken berufen sein wird.

Aber welches ist dieses Ganze?

Die Wissenschaft ist kosmopolitisch, keine mehr als die Naturwissenschaft
und die auf ihr fußende Technik. Ihre Leistungen tragen keine nationale
Signatur wie die der Kunst, ihre Jünger können dieselben Kenntnisse und Er¬
fahrungen in allen fünf Welttheilen verwerthen. Es ist deshalb keineswegs
undenkbar, daß sie gleichmüthig heute dem, morgen jenem Volke ihre Thätigkeit
widmen, sich als Weltbürger fühlen, die überall zu Hause sind, und deshalb
nirgends eine Heimath haben. Dies scheint ja doch auch starken Strömungen
unsrer Zeit zu entsprechen. Hört man doch fortwährend von dem Niederreißen
der Schranken zwischen den Völkern, von der Verbrüderung, dem friedlichen
Wetteifer der Nationen, die an die Stelle blutiger Kriege treten sollen n. s. f.
In diesen Reden mischt sich Richtiges und Grnndverkehrtes. Gewiß sollen die
äußerlichen Schranken fallen, schwinden sollen die gehässigen und thörichten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/99>, abgerufen am 28.09.2024.