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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Vorurtheile gegen die Fremden, die Gebildeten aller Kulturvölker sollen sich
bemühen, das Wesen anderer Nationen unbefangen zu verstehen. Wer aber
darüber hinaus nach einer Friedensliga, nach den "Vereinigten Staaten vou
Europa" strebt, der weiß nicht, was er thut. Ein schwerer Irrthum ist es, zu
glauben, daß in unsrer Zeit und mit der fortschreitenden Kultur überhaupt
die Nationalitäten im Verschwinden begriffe" seien. Die Verwischung natio¬
naler Unterschiede ist das Zeichen einer sinkenden und absterbenden Epoche,
wie die alexandrinische Zeit dies war und die Periode der römischen Kaiser,
keineswegs also ein zu erstrebendes Ziel, und keineswegs auch ein Ziel, dem
unsre Zeit irgendwie nahe wäre. Denn sie ist trotz aller Gebrechen eine auf¬
steigende, keine Epoche des Niedergangs. Schärfer als jemals sonst haben sich
in ihr die Nationalitäten politisch auseinandergesetzt, widernatürlich getrennte
Völker sich geeinigt (wir haben es selbst mit gehobenem Herzen erlebt), und
wenn man dereinst den politischen Charakter unsrer reichen Zeit mit ein paar
Worten wird bezeichnen wollen, man wird sie mit vollem Rechte als die der
Neugestaltung Europas auf nationaler Grundlage anführen.

Ist dies richtig, so hat jeder, auch der Vertreter der weltbürgerlichsten aller
Wissenschaften, seinen Platz bei seinem Volke. Auch wir in Deutschland haben
uns -- endlich! -- daran gewöhnt, den Mann zu fragen, wie er zu seinem
Staate stehe, d. i. ob er in Wahrheit ein Vaterland habe; über die grämliche
Verzweiflung an der Nation und die kosmopolitische Schwärmerei, die noch
Schiller verführte, den Patriotismus als eine Empfindung unreifer Völker zu
bezeichnen, sind wir hinaus; es waren Kinderkrankheiten. Wir Deutschen sind
im Begriffe, eine Nation im politischen Sinne zu werden, noch sind wir es
nicht, aber um so höher steht die Pflicht für die Gebildeten, und vor allem
für die wissenschaftlich Gebildeten, welche die geistigen Führer des Volkes sind
oder sein werden, in sich selbst diesen Sinn zu pflegen, den nationalen Stolz
ohne nationale Eitelkeit, die Opferwilligkeit für das Ganze. Und zu diesen
geistigen Führern des Volkes werden auch die Studirenden der technischen Hoch¬
schulen dereinst gehören. Auch ihre Aufgabe wird es sein, die Ehre ihrer Nation,
welche es anch sei, zu wahren und zu fördern, wo sie dereinst anch stehen, ob im
Vaterlande, ob draußen in der Fremde; ob sie Brücke" schlagen oder Paläste
bauen, ob sie Maschinen konstruiren oder eine Fabrik dirigiren, sie werden es
thun nicht als Einzelne, sondern als Söhne ihres Volkes.

Doch zu begründeter Ueberzeugung verhilft nie das bloße Gefühl oder
äußerlicher Zwang, sondern allein die bewußte Kenntniß dessen, was das eigene
und was fremde Völker geworden und wie sie es geworden sind, und diese
vermittelt die Geschichte. Erst durch die Vergangenheit lernen wir die Gegen¬
wart verstehen; erst wer jene kennt, darf behaupten, sein Volk zu kennen,


Vorurtheile gegen die Fremden, die Gebildeten aller Kulturvölker sollen sich
bemühen, das Wesen anderer Nationen unbefangen zu verstehen. Wer aber
darüber hinaus nach einer Friedensliga, nach den „Vereinigten Staaten vou
Europa" strebt, der weiß nicht, was er thut. Ein schwerer Irrthum ist es, zu
glauben, daß in unsrer Zeit und mit der fortschreitenden Kultur überhaupt
die Nationalitäten im Verschwinden begriffe» seien. Die Verwischung natio¬
naler Unterschiede ist das Zeichen einer sinkenden und absterbenden Epoche,
wie die alexandrinische Zeit dies war und die Periode der römischen Kaiser,
keineswegs also ein zu erstrebendes Ziel, und keineswegs auch ein Ziel, dem
unsre Zeit irgendwie nahe wäre. Denn sie ist trotz aller Gebrechen eine auf¬
steigende, keine Epoche des Niedergangs. Schärfer als jemals sonst haben sich
in ihr die Nationalitäten politisch auseinandergesetzt, widernatürlich getrennte
Völker sich geeinigt (wir haben es selbst mit gehobenem Herzen erlebt), und
wenn man dereinst den politischen Charakter unsrer reichen Zeit mit ein paar
Worten wird bezeichnen wollen, man wird sie mit vollem Rechte als die der
Neugestaltung Europas auf nationaler Grundlage anführen.

Ist dies richtig, so hat jeder, auch der Vertreter der weltbürgerlichsten aller
Wissenschaften, seinen Platz bei seinem Volke. Auch wir in Deutschland haben
uns — endlich! — daran gewöhnt, den Mann zu fragen, wie er zu seinem
Staate stehe, d. i. ob er in Wahrheit ein Vaterland habe; über die grämliche
Verzweiflung an der Nation und die kosmopolitische Schwärmerei, die noch
Schiller verführte, den Patriotismus als eine Empfindung unreifer Völker zu
bezeichnen, sind wir hinaus; es waren Kinderkrankheiten. Wir Deutschen sind
im Begriffe, eine Nation im politischen Sinne zu werden, noch sind wir es
nicht, aber um so höher steht die Pflicht für die Gebildeten, und vor allem
für die wissenschaftlich Gebildeten, welche die geistigen Führer des Volkes sind
oder sein werden, in sich selbst diesen Sinn zu pflegen, den nationalen Stolz
ohne nationale Eitelkeit, die Opferwilligkeit für das Ganze. Und zu diesen
geistigen Führern des Volkes werden auch die Studirenden der technischen Hoch¬
schulen dereinst gehören. Auch ihre Aufgabe wird es sein, die Ehre ihrer Nation,
welche es anch sei, zu wahren und zu fördern, wo sie dereinst anch stehen, ob im
Vaterlande, ob draußen in der Fremde; ob sie Brücke» schlagen oder Paläste
bauen, ob sie Maschinen konstruiren oder eine Fabrik dirigiren, sie werden es
thun nicht als Einzelne, sondern als Söhne ihres Volkes.

Doch zu begründeter Ueberzeugung verhilft nie das bloße Gefühl oder
äußerlicher Zwang, sondern allein die bewußte Kenntniß dessen, was das eigene
und was fremde Völker geworden und wie sie es geworden sind, und diese
vermittelt die Geschichte. Erst durch die Vergangenheit lernen wir die Gegen¬
wart verstehen; erst wer jene kennt, darf behaupten, sein Volk zu kennen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/100>, abgerufen am 28.09.2024.