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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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allerorten das größere Publikum in dies Interesse. Und ist es nicht ein un-
widerlegliches Zeugniß für die Popularität beider Wissenschaften, daß sie beide
und sie allein klassische Werke hervorgebracht haben, Werke also, die nicht nur
für den immerhin engen Kreis der Forscher mustergiltig und bedeutsam sind,
sondern im Leben einer ganzen Nation einen dauernden Platz behaupten?
Ich darf nur an Humboldt's "Kosmos" oder an Ranke's Geschichtswerke
erinnern.

Und doch konnte man geneigt sein eben in dem ziemlich gleichmäßigen
Interesse, dem beide Wissenschaften in der Gegenwart begegnen, einen Beweis
mehr dafür zu finden, daß unsre Zeit jeder Einheit ihrer Weltanschauung
entbehre, daß ein tiefer Riß durch das innere Leben der Nationen hindurchgehe.
Denn, was haben in der That beide Wissenschaften mit einander gemein? In
welchen Punkten trennt sie nicht ein scharfer Gegensatz? Sie stehen zunächst
völlig verschieden zur Vergangenheit. Eben diese ist das Objekt der Geschichte.
Sie nöthigt den Forscher fortwährend, den Blick rückwärts zu kehren, sie kann
ihn verleiten, obwohl sie dies weder muß noch soll, die lebendige Gegenwart
ganz aus dem Auge zu verlieren und ihr Recht gegenüber den Ueberlieferungen
und den Resten der Borzeit zu vergessen, das Recht der Lebendigen gegenüber
dem Rechte der Todten. Der Mann der exacten Wissenschaft und der Tech¬
niker dagegen hat selten das Bedürfniß in die Vergangenheit zu schauen; er
weiß: viele Theile seines Faches waren einer früheren Zeit ganz unbekannt,
in andern hat die Gegenwart jene weit übertroffen; er kann geneigt sein mit
einer gewissen Geringschätzung auf vergangene Leistungen zurückzusehen und
auf die, welche ihr Vergnügen darin finden, den Schutt der Jahrhunderte um¬
zuwühlen. Ist ja doch auch das ganze Gebiet beider Wissensrichtungen ein
völlig anderes! Die Geschichte erforscht die Entwickelung des Menschen¬
geschlechts in der Zeit, die unaufhörlich sich nen gestaltet; die Naturwissenschaft
sucht einzudringen in die Gesetze einer unabänderlichen Natur, welche vor Jahr¬
tausenden dieselben waren, die sie hente sind, und auf ihren Ergebnissen fußend
strebt die Technik sie für die Gegenwart nutzbar zu machen. Und wie groß
endlich ist eben deshalb die Verschiedenheit der Methode! Der Historiker wird
von seinem Gegenstande oft durch lange Zeiträume getrennt; er kann ihn
nicht unmittelbar beobachten, sondern nur durch das Mittel einer oft lückew'
haften, unsicheren Ueberlieferung, die keines Menschen Witz vollständiger und
sichrer machen kann; er muß aus tausend Elementen ein Bild in seiner Seele
sich gestalten, das in einem andern Kopfe sich vielleicht ganz anders spiegelt;
ja er steht seinem Objekt nicht immer mit leidenschaftsloser Unbefangenheit
gegenüber; denn mächtig erschüttern große Kämpfe und Leiden sein Herz, mehr
noch als sie seinen Verstand beschäftigen; ja über manche Dinge ist dein


allerorten das größere Publikum in dies Interesse. Und ist es nicht ein un-
widerlegliches Zeugniß für die Popularität beider Wissenschaften, daß sie beide
und sie allein klassische Werke hervorgebracht haben, Werke also, die nicht nur
für den immerhin engen Kreis der Forscher mustergiltig und bedeutsam sind,
sondern im Leben einer ganzen Nation einen dauernden Platz behaupten?
Ich darf nur an Humboldt's „Kosmos" oder an Ranke's Geschichtswerke
erinnern.

Und doch konnte man geneigt sein eben in dem ziemlich gleichmäßigen
Interesse, dem beide Wissenschaften in der Gegenwart begegnen, einen Beweis
mehr dafür zu finden, daß unsre Zeit jeder Einheit ihrer Weltanschauung
entbehre, daß ein tiefer Riß durch das innere Leben der Nationen hindurchgehe.
Denn, was haben in der That beide Wissenschaften mit einander gemein? In
welchen Punkten trennt sie nicht ein scharfer Gegensatz? Sie stehen zunächst
völlig verschieden zur Vergangenheit. Eben diese ist das Objekt der Geschichte.
Sie nöthigt den Forscher fortwährend, den Blick rückwärts zu kehren, sie kann
ihn verleiten, obwohl sie dies weder muß noch soll, die lebendige Gegenwart
ganz aus dem Auge zu verlieren und ihr Recht gegenüber den Ueberlieferungen
und den Resten der Borzeit zu vergessen, das Recht der Lebendigen gegenüber
dem Rechte der Todten. Der Mann der exacten Wissenschaft und der Tech¬
niker dagegen hat selten das Bedürfniß in die Vergangenheit zu schauen; er
weiß: viele Theile seines Faches waren einer früheren Zeit ganz unbekannt,
in andern hat die Gegenwart jene weit übertroffen; er kann geneigt sein mit
einer gewissen Geringschätzung auf vergangene Leistungen zurückzusehen und
auf die, welche ihr Vergnügen darin finden, den Schutt der Jahrhunderte um¬
zuwühlen. Ist ja doch auch das ganze Gebiet beider Wissensrichtungen ein
völlig anderes! Die Geschichte erforscht die Entwickelung des Menschen¬
geschlechts in der Zeit, die unaufhörlich sich nen gestaltet; die Naturwissenschaft
sucht einzudringen in die Gesetze einer unabänderlichen Natur, welche vor Jahr¬
tausenden dieselben waren, die sie hente sind, und auf ihren Ergebnissen fußend
strebt die Technik sie für die Gegenwart nutzbar zu machen. Und wie groß
endlich ist eben deshalb die Verschiedenheit der Methode! Der Historiker wird
von seinem Gegenstande oft durch lange Zeiträume getrennt; er kann ihn
nicht unmittelbar beobachten, sondern nur durch das Mittel einer oft lückew'
haften, unsicheren Ueberlieferung, die keines Menschen Witz vollständiger und
sichrer machen kann; er muß aus tausend Elementen ein Bild in seiner Seele
sich gestalten, das in einem andern Kopfe sich vielleicht ganz anders spiegelt;
ja er steht seinem Objekt nicht immer mit leidenschaftsloser Unbefangenheit
gegenüber; denn mächtig erschüttern große Kämpfe und Leiden sein Herz, mehr
noch als sie seinen Verstand beschäftigen; ja über manche Dinge ist dein


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[0090] allerorten das größere Publikum in dies Interesse. Und ist es nicht ein un- widerlegliches Zeugniß für die Popularität beider Wissenschaften, daß sie beide und sie allein klassische Werke hervorgebracht haben, Werke also, die nicht nur für den immerhin engen Kreis der Forscher mustergiltig und bedeutsam sind, sondern im Leben einer ganzen Nation einen dauernden Platz behaupten? Ich darf nur an Humboldt's „Kosmos" oder an Ranke's Geschichtswerke erinnern. Und doch konnte man geneigt sein eben in dem ziemlich gleichmäßigen Interesse, dem beide Wissenschaften in der Gegenwart begegnen, einen Beweis mehr dafür zu finden, daß unsre Zeit jeder Einheit ihrer Weltanschauung entbehre, daß ein tiefer Riß durch das innere Leben der Nationen hindurchgehe. Denn, was haben in der That beide Wissenschaften mit einander gemein? In welchen Punkten trennt sie nicht ein scharfer Gegensatz? Sie stehen zunächst völlig verschieden zur Vergangenheit. Eben diese ist das Objekt der Geschichte. Sie nöthigt den Forscher fortwährend, den Blick rückwärts zu kehren, sie kann ihn verleiten, obwohl sie dies weder muß noch soll, die lebendige Gegenwart ganz aus dem Auge zu verlieren und ihr Recht gegenüber den Ueberlieferungen und den Resten der Borzeit zu vergessen, das Recht der Lebendigen gegenüber dem Rechte der Todten. Der Mann der exacten Wissenschaft und der Tech¬ niker dagegen hat selten das Bedürfniß in die Vergangenheit zu schauen; er weiß: viele Theile seines Faches waren einer früheren Zeit ganz unbekannt, in andern hat die Gegenwart jene weit übertroffen; er kann geneigt sein mit einer gewissen Geringschätzung auf vergangene Leistungen zurückzusehen und auf die, welche ihr Vergnügen darin finden, den Schutt der Jahrhunderte um¬ zuwühlen. Ist ja doch auch das ganze Gebiet beider Wissensrichtungen ein völlig anderes! Die Geschichte erforscht die Entwickelung des Menschen¬ geschlechts in der Zeit, die unaufhörlich sich nen gestaltet; die Naturwissenschaft sucht einzudringen in die Gesetze einer unabänderlichen Natur, welche vor Jahr¬ tausenden dieselben waren, die sie hente sind, und auf ihren Ergebnissen fußend strebt die Technik sie für die Gegenwart nutzbar zu machen. Und wie groß endlich ist eben deshalb die Verschiedenheit der Methode! Der Historiker wird von seinem Gegenstande oft durch lange Zeiträume getrennt; er kann ihn nicht unmittelbar beobachten, sondern nur durch das Mittel einer oft lückew' haften, unsicheren Ueberlieferung, die keines Menschen Witz vollständiger und sichrer machen kann; er muß aus tausend Elementen ein Bild in seiner Seele sich gestalten, das in einem andern Kopfe sich vielleicht ganz anders spiegelt; ja er steht seinem Objekt nicht immer mit leidenschaftsloser Unbefangenheit gegenüber; denn mächtig erschüttern große Kämpfe und Leiden sein Herz, mehr noch als sie seinen Verstand beschäftigen; ja über manche Dinge ist dein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/90>, abgerufen am 28.09.2024.