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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Die Memoiren HetKer's.

Gegenwärtig, in der Zeit der Erfüllung, wendet man im Allgemeinen nicht
gern mehr den Blick eingehend zurück auf die Episoden beschwerlichen Ringens
um die deutsche Reform. Die Schleswig-holsteinische, die kurhessische und manche
andere Sachen haben einst ihre Dienste ausreichend geleistet, und es ist nnr
natürlich, daß die früher in weiten Kreisen mit so großem Interesse und solcher
Lebhaftigkeit aufgenommenen Details solcher Entwickelungsstufen der deutschen
Frage verhältnißmäßig rasch der Erinnerung entfliehen. In Uebersättigung an
den früher im öffentlichen Leben in den Vordergrund tretenden Negationen,
im heißen Drange nach positivem Schaffen ist aber die Gegenwart auch leicht
geneigt, sich die Sammlung von Material zur Fixirung der für die Geschichte
bemerkenswerth bleibenden Momente nicht sehr angelegen sein zu lassen. Mit
um so größerer Freude nehmen wir die "Lebenserinnerungen" Fr. Oetker's,
Stuttgart bei Auerbach auf, der lange Zeit und so innig wie sonst niemand,
den öffentlichen Verhältnissen Kurhesseus, und gerade am meisten in den schweren
Perioden von allgemeinerer Bedeutung, nahe gestanden hat.

Die knrhessischen Verfassungskämpfe, nicht nur der von 1850 gegen Hassen-
pflug und derjenige der sechziger Jahre für Wiederherstellung der Verfassung,
sondern auch die, welche von 1831 an die ersten 17 Regierungsjahre des letzten
Kurfürsten ausfüllten, sind vielfach beschrieben worden; gleichwohl ist ein ab¬
schließendes Urtheil der Geschichte ohne diese Memoiren nicht möglich; denn
infolge eigenthümlicher Umstände ist Oetker als Haupt-, ja eine Zeit lang als
ausschließlicher Träger der Volkswünsche in die auf das öffentliche Leben des
früheren Kurhessen bezüglichen Details eingeweiht und hat als Vertrauens¬
mann des Volkes alle wichtigen Schritte desselben geleitet oder beeinflußt.
Seine ausgedehnte Kenntniß der Einrichtungen, Eigenthümlichkeiten und Persön¬
lichkeiten Hessens verschaffte ihm in den Zeiten der preußischen Verwaltung
wie in denen der hessischen Kämpfe eine große Ueberlegenheit, sogar öfters
über die Regierungsorgane. Was aus der neueren Geschichte Hessens noch
der Aufklärung und Ergänzung bedarf, könnte von keiner competenteren Seite
erwartet werden. Wenn etwa wichtigere Vorgänge zu den Zeiten der Agonie
des Kurstaats oder des Uebergangs an Preußen naturgemäß sich zunächst der
Öffentlichkeit entzogen haben sollten, schwerlich wird die Kunde hiervon ander¬
wärts in Depositum verhalten sein, als bei dem Manne, welcher nach den Um¬
ständen als der Vertreter des Landes angesehen werden mußte. Ist für die
Richtigstellung von Thatsachen und zur Beurtheilung geschichtlicher Vorgänge
das Urtheil berufener Zeitgenossen von größtem Werthe, um wieviel mehr muß


Die Memoiren HetKer's.

Gegenwärtig, in der Zeit der Erfüllung, wendet man im Allgemeinen nicht
gern mehr den Blick eingehend zurück auf die Episoden beschwerlichen Ringens
um die deutsche Reform. Die Schleswig-holsteinische, die kurhessische und manche
andere Sachen haben einst ihre Dienste ausreichend geleistet, und es ist nnr
natürlich, daß die früher in weiten Kreisen mit so großem Interesse und solcher
Lebhaftigkeit aufgenommenen Details solcher Entwickelungsstufen der deutschen
Frage verhältnißmäßig rasch der Erinnerung entfliehen. In Uebersättigung an
den früher im öffentlichen Leben in den Vordergrund tretenden Negationen,
im heißen Drange nach positivem Schaffen ist aber die Gegenwart auch leicht
geneigt, sich die Sammlung von Material zur Fixirung der für die Geschichte
bemerkenswerth bleibenden Momente nicht sehr angelegen sein zu lassen. Mit
um so größerer Freude nehmen wir die „Lebenserinnerungen" Fr. Oetker's,
Stuttgart bei Auerbach auf, der lange Zeit und so innig wie sonst niemand,
den öffentlichen Verhältnissen Kurhesseus, und gerade am meisten in den schweren
Perioden von allgemeinerer Bedeutung, nahe gestanden hat.

Die knrhessischen Verfassungskämpfe, nicht nur der von 1850 gegen Hassen-
pflug und derjenige der sechziger Jahre für Wiederherstellung der Verfassung,
sondern auch die, welche von 1831 an die ersten 17 Regierungsjahre des letzten
Kurfürsten ausfüllten, sind vielfach beschrieben worden; gleichwohl ist ein ab¬
schließendes Urtheil der Geschichte ohne diese Memoiren nicht möglich; denn
infolge eigenthümlicher Umstände ist Oetker als Haupt-, ja eine Zeit lang als
ausschließlicher Träger der Volkswünsche in die auf das öffentliche Leben des
früheren Kurhessen bezüglichen Details eingeweiht und hat als Vertrauens¬
mann des Volkes alle wichtigen Schritte desselben geleitet oder beeinflußt.
Seine ausgedehnte Kenntniß der Einrichtungen, Eigenthümlichkeiten und Persön¬
lichkeiten Hessens verschaffte ihm in den Zeiten der preußischen Verwaltung
wie in denen der hessischen Kämpfe eine große Ueberlegenheit, sogar öfters
über die Regierungsorgane. Was aus der neueren Geschichte Hessens noch
der Aufklärung und Ergänzung bedarf, könnte von keiner competenteren Seite
erwartet werden. Wenn etwa wichtigere Vorgänge zu den Zeiten der Agonie
des Kurstaats oder des Uebergangs an Preußen naturgemäß sich zunächst der
Öffentlichkeit entzogen haben sollten, schwerlich wird die Kunde hiervon ander¬
wärts in Depositum verhalten sein, als bei dem Manne, welcher nach den Um¬
ständen als der Vertreter des Landes angesehen werden mußte. Ist für die
Richtigstellung von Thatsachen und zur Beurtheilung geschichtlicher Vorgänge
das Urtheil berufener Zeitgenossen von größtem Werthe, um wieviel mehr muß


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[0086] Die Memoiren HetKer's. Gegenwärtig, in der Zeit der Erfüllung, wendet man im Allgemeinen nicht gern mehr den Blick eingehend zurück auf die Episoden beschwerlichen Ringens um die deutsche Reform. Die Schleswig-holsteinische, die kurhessische und manche andere Sachen haben einst ihre Dienste ausreichend geleistet, und es ist nnr natürlich, daß die früher in weiten Kreisen mit so großem Interesse und solcher Lebhaftigkeit aufgenommenen Details solcher Entwickelungsstufen der deutschen Frage verhältnißmäßig rasch der Erinnerung entfliehen. In Uebersättigung an den früher im öffentlichen Leben in den Vordergrund tretenden Negationen, im heißen Drange nach positivem Schaffen ist aber die Gegenwart auch leicht geneigt, sich die Sammlung von Material zur Fixirung der für die Geschichte bemerkenswerth bleibenden Momente nicht sehr angelegen sein zu lassen. Mit um so größerer Freude nehmen wir die „Lebenserinnerungen" Fr. Oetker's, Stuttgart bei Auerbach auf, der lange Zeit und so innig wie sonst niemand, den öffentlichen Verhältnissen Kurhesseus, und gerade am meisten in den schweren Perioden von allgemeinerer Bedeutung, nahe gestanden hat. Die knrhessischen Verfassungskämpfe, nicht nur der von 1850 gegen Hassen- pflug und derjenige der sechziger Jahre für Wiederherstellung der Verfassung, sondern auch die, welche von 1831 an die ersten 17 Regierungsjahre des letzten Kurfürsten ausfüllten, sind vielfach beschrieben worden; gleichwohl ist ein ab¬ schließendes Urtheil der Geschichte ohne diese Memoiren nicht möglich; denn infolge eigenthümlicher Umstände ist Oetker als Haupt-, ja eine Zeit lang als ausschließlicher Träger der Volkswünsche in die auf das öffentliche Leben des früheren Kurhessen bezüglichen Details eingeweiht und hat als Vertrauens¬ mann des Volkes alle wichtigen Schritte desselben geleitet oder beeinflußt. Seine ausgedehnte Kenntniß der Einrichtungen, Eigenthümlichkeiten und Persön¬ lichkeiten Hessens verschaffte ihm in den Zeiten der preußischen Verwaltung wie in denen der hessischen Kämpfe eine große Ueberlegenheit, sogar öfters über die Regierungsorgane. Was aus der neueren Geschichte Hessens noch der Aufklärung und Ergänzung bedarf, könnte von keiner competenteren Seite erwartet werden. Wenn etwa wichtigere Vorgänge zu den Zeiten der Agonie des Kurstaats oder des Uebergangs an Preußen naturgemäß sich zunächst der Öffentlichkeit entzogen haben sollten, schwerlich wird die Kunde hiervon ander¬ wärts in Depositum verhalten sein, als bei dem Manne, welcher nach den Um¬ ständen als der Vertreter des Landes angesehen werden mußte. Ist für die Richtigstellung von Thatsachen und zur Beurtheilung geschichtlicher Vorgänge das Urtheil berufener Zeitgenossen von größtem Werthe, um wieviel mehr muß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/86>, abgerufen am 28.09.2024.