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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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etwas später von Herzog Ernst dem Frommen zu Sachsen-Gotha Schritte ge¬
than wurden, um diesen Vorschlag in Ausführung zu bringen, so beweist das
wohl hinlänglich, wie weit sich unsere Väter von Luther's freiem evangelischen
Geiste entfernt hatten. Wäre ein solcher Gedanke wirklich ausgeführt, so
möchte wohl die Wahl zwischen einem Papste und zwölf Papisten, die nach
Hunnius' Meinung ihre Nachfolger uoch dazu selbst bilden und erziehen
sollten, nicht schwer geworden sein. Die kleine Zahl derer, die an Melanchthon
sich anschließend, in Luther's Geist und Sinn, ohne Rücksicht ans irgend eine
Art menschlicher Autorität durch freie Forschung in den Urkunden des Christen¬
thums dasselbe zu entwickeln suchten, ward bald unterdrückt, und die Partei
lutherischer Eiferer, die den Buchstaben von Luther's Lehre mit allen seinen
dogmatischen Vorstellungen heiligte und an die Stelle der Bibel setzte, erlangte
die Herrschaft. Wirft man einen Blick auf die verhältnißmäßig reißend schnelle
Verbreitung der Reformation und auf die Art, wie dieselbe vor sich ging, so
sollte man glauben, sie habe sür die große Masse nur den Zweck gehabt,
finsteren Aberglauben zu zerstören, Irrthümer hinwegzuräumen, das Aufbauen
von etwas Besserem und Neuem späteren Jahrhunderten überlassend. Sobald
aber ein Schaden nur leicht bedeckt und nicht gründlich geheilt ist, treibt er
neue Geschwüre hervor. So lange das Menschenleben nicht in seiner Wurzel
gesund ist, keimen immer dieselben Irrthümer und Verkehrtheiten, wenn gleich
in anderen Formen, wieder auf. So konnte es geschehen, daß die äußere Ge¬
stalt des Papstthums vernichtet ward, während sein innerstes Wesen, sein
Hochmuth, seine Herrschsucht und Anmaßung, sein widerchristlicher Geist noch
lauge auch in der protestantischen Kirche fortlebten und seine Grundsätze noch
gewaltig in den Gemüthern der Menschen herrschten. Daß dieses im 17. Jahr¬
hundert wirklich der Fall war, mag der folgende Vorfall lehren.

Peter Günther, ein Kleinschmiedsgeselle, ein geborner Preuße, lebte in der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Wahrscheinlich war er von protestan¬
tischen Eltern geboren, doch fehlen bestimmte Nachrichten hierüber. Günther
zeigte sich bis an das Ende seines Lebens als ein Mann von warmem
Herzen, einem tiefen Ernste und dew unsers werth er Festigkeit des Charakters,
durchaus aufrichtig in seiner Gesinnung, empfänglich für höhere Eindrücke,
aber von sehr beschränktem, man kann wohl sagen, blödem Verstände. Schlecht
unterrichtet, höchstens mit einem auswendig gelernten, nicht einmal verstandenen
Katechismus ausgestattet, kam er in die Handwerkslehre. Eine Zeit lang
machte er mit, was er die anderen Handwerksgesellen thun sah, war, wie seine
Genossen, leichtsinnig und roh. Indessen die Leere lind das Mißbehagen,
welches er bei einem so unordentlichen Leben in seinem Innern wahrnahm,
ließen ihn bald fühlen, daß er sich nicht in seinem Elemente befand; manche


etwas später von Herzog Ernst dem Frommen zu Sachsen-Gotha Schritte ge¬
than wurden, um diesen Vorschlag in Ausführung zu bringen, so beweist das
wohl hinlänglich, wie weit sich unsere Väter von Luther's freiem evangelischen
Geiste entfernt hatten. Wäre ein solcher Gedanke wirklich ausgeführt, so
möchte wohl die Wahl zwischen einem Papste und zwölf Papisten, die nach
Hunnius' Meinung ihre Nachfolger uoch dazu selbst bilden und erziehen
sollten, nicht schwer geworden sein. Die kleine Zahl derer, die an Melanchthon
sich anschließend, in Luther's Geist und Sinn, ohne Rücksicht ans irgend eine
Art menschlicher Autorität durch freie Forschung in den Urkunden des Christen¬
thums dasselbe zu entwickeln suchten, ward bald unterdrückt, und die Partei
lutherischer Eiferer, die den Buchstaben von Luther's Lehre mit allen seinen
dogmatischen Vorstellungen heiligte und an die Stelle der Bibel setzte, erlangte
die Herrschaft. Wirft man einen Blick auf die verhältnißmäßig reißend schnelle
Verbreitung der Reformation und auf die Art, wie dieselbe vor sich ging, so
sollte man glauben, sie habe sür die große Masse nur den Zweck gehabt,
finsteren Aberglauben zu zerstören, Irrthümer hinwegzuräumen, das Aufbauen
von etwas Besserem und Neuem späteren Jahrhunderten überlassend. Sobald
aber ein Schaden nur leicht bedeckt und nicht gründlich geheilt ist, treibt er
neue Geschwüre hervor. So lange das Menschenleben nicht in seiner Wurzel
gesund ist, keimen immer dieselben Irrthümer und Verkehrtheiten, wenn gleich
in anderen Formen, wieder auf. So konnte es geschehen, daß die äußere Ge¬
stalt des Papstthums vernichtet ward, während sein innerstes Wesen, sein
Hochmuth, seine Herrschsucht und Anmaßung, sein widerchristlicher Geist noch
lauge auch in der protestantischen Kirche fortlebten und seine Grundsätze noch
gewaltig in den Gemüthern der Menschen herrschten. Daß dieses im 17. Jahr¬
hundert wirklich der Fall war, mag der folgende Vorfall lehren.

Peter Günther, ein Kleinschmiedsgeselle, ein geborner Preuße, lebte in der
zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Wahrscheinlich war er von protestan¬
tischen Eltern geboren, doch fehlen bestimmte Nachrichten hierüber. Günther
zeigte sich bis an das Ende seines Lebens als ein Mann von warmem
Herzen, einem tiefen Ernste und dew unsers werth er Festigkeit des Charakters,
durchaus aufrichtig in seiner Gesinnung, empfänglich für höhere Eindrücke,
aber von sehr beschränktem, man kann wohl sagen, blödem Verstände. Schlecht
unterrichtet, höchstens mit einem auswendig gelernten, nicht einmal verstandenen
Katechismus ausgestattet, kam er in die Handwerkslehre. Eine Zeit lang
machte er mit, was er die anderen Handwerksgesellen thun sah, war, wie seine
Genossen, leichtsinnig und roh. Indessen die Leere lind das Mißbehagen,
welches er bei einem so unordentlichen Leben in seinem Innern wahrnahm,
ließen ihn bald fühlen, daß er sich nicht in seinem Elemente befand; manche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/76>, abgerufen am 28.09.2024.