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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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umgeht sie mit einen: bloßen Witzworte. Betreffs der Typeuhaftigkeit der ganzen
Erscheinung berufen sich aber beide ans die sogenannten "stehenden Charaktere"
und die Möglichkeit mannigfacher Variirung innerhalb des Typus, ohne zu
sehen, daß Harlekin gar kein Charakter, sondern nur eine Maske war.

Es kommt uns hente sauer an, von Lessing's klarem, scharf zergliedernden und
unterscheidenden Geiste zu glauben, daß er diesen Unterschied nicht herausge¬
fühlt haben sollte -- und doch ist es so. Lessing abstrahirte seine Geschmacks¬
regeln vielfach nicht aus dem Wesen der Sache selbst, sondern von vorhandenen
Vorbildern, mit Vorliebe von der Antike. Wem fiele es heute noch ein, sich
auf das altgriechische und altrömische Theater zu berufen, um irgeud eine
Erscheinung der modernen deutschen Bühne zu rechtfertigen? Ganz abgesehen
davon, daß in diesem Falle die Parallele nicht einmal zutreffend war. So
weit auch Lessing in einzelnen wichtigen Punkten den ästhetischen Anschauungen
seiner Zeit voraus war, in andern stand er doch auch wieder durchaus noch
auf dem Boden seiner Zeit. So anch in der vorliegenden Frage.

Die gebildeten und gelehrten Gegner des Harlekin trafen natürlich -- und
dies muß schließlich noch hervorgehoben werden -- in ihren Anklagen eben so
wenig den Cardinalpnnkt, wie Möser und Lessing in ihren Vertheidigungen.
Wenn Devrient sagt, daß man die "Unlebendigkeit" des Hanswurst nur zu
gut vou Anfang an empfunden habe, und daß eben darum die uralte Gestalt
fortwährend Kleider und Namen gewechselt habe, um wenigstens immer
individuell zu scheinen, so kaun mau ihm darin doch nicht beistimmen. Ein
dunkles Gefühl jener "Unlebendigkeit" mag vorhanden gewesen sein, eine klare
Einsicht auf keinen Fall. An was die Gegner Anstoß nahmen, das geht ja aus
den Worten der Vertheidiger zur Genüge hervor. Moser fängt an einer Stelle
seiner Abhandlung die sämmtlichen Angriffe gleichsam auf, um sie dann zu
Pariren; es klingt, als hätte erste aus den Wochenschriften jener Zeit zusammen¬
getragen. Da heißt es: "Wie elend ist das Gemische der Harlekinaden! Ohne
Wahl, ohne Ordnung, ohne Einheit, ohne Ton, ohne Absicht .... Niedrig
kriechend, unanständig, possenhaft . . . voller Zoten, liederlicher Anspielungen,
ausgestopfter leerer Einfülle, ewiger Sprichwörter ... ist alles, was wir noch
bisher von diesen so hoch gerühmten Caricatnrgemälden gesehen haben." Alle
Angriffe richteten sich gegen die Rohheit und Albernheit vou .Harlekins Späßen,
gegen seine ausländische Herkunft, gegen das langweilige Einerlei seines Wesens
und seiner äußern Erscheinung. Das Hauptgebrechen wurde nirgends auch nur
mit einer Silbe berührt.

Auch bei Gottsched ist natürlich nicht daran zu denken, daß er in diesem
Punkte weiter gesehen habe, als Lessing. Auch Gottsched hatte keine Ahnung
davon, daß es, wie Roquette in seiner "Geschichte der deutschen Dichtung"


umgeht sie mit einen: bloßen Witzworte. Betreffs der Typeuhaftigkeit der ganzen
Erscheinung berufen sich aber beide ans die sogenannten „stehenden Charaktere"
und die Möglichkeit mannigfacher Variirung innerhalb des Typus, ohne zu
sehen, daß Harlekin gar kein Charakter, sondern nur eine Maske war.

Es kommt uns hente sauer an, von Lessing's klarem, scharf zergliedernden und
unterscheidenden Geiste zu glauben, daß er diesen Unterschied nicht herausge¬
fühlt haben sollte — und doch ist es so. Lessing abstrahirte seine Geschmacks¬
regeln vielfach nicht aus dem Wesen der Sache selbst, sondern von vorhandenen
Vorbildern, mit Vorliebe von der Antike. Wem fiele es heute noch ein, sich
auf das altgriechische und altrömische Theater zu berufen, um irgeud eine
Erscheinung der modernen deutschen Bühne zu rechtfertigen? Ganz abgesehen
davon, daß in diesem Falle die Parallele nicht einmal zutreffend war. So
weit auch Lessing in einzelnen wichtigen Punkten den ästhetischen Anschauungen
seiner Zeit voraus war, in andern stand er doch auch wieder durchaus noch
auf dem Boden seiner Zeit. So anch in der vorliegenden Frage.

Die gebildeten und gelehrten Gegner des Harlekin trafen natürlich — und
dies muß schließlich noch hervorgehoben werden — in ihren Anklagen eben so
wenig den Cardinalpnnkt, wie Möser und Lessing in ihren Vertheidigungen.
Wenn Devrient sagt, daß man die „Unlebendigkeit" des Hanswurst nur zu
gut vou Anfang an empfunden habe, und daß eben darum die uralte Gestalt
fortwährend Kleider und Namen gewechselt habe, um wenigstens immer
individuell zu scheinen, so kaun mau ihm darin doch nicht beistimmen. Ein
dunkles Gefühl jener „Unlebendigkeit" mag vorhanden gewesen sein, eine klare
Einsicht auf keinen Fall. An was die Gegner Anstoß nahmen, das geht ja aus
den Worten der Vertheidiger zur Genüge hervor. Moser fängt an einer Stelle
seiner Abhandlung die sämmtlichen Angriffe gleichsam auf, um sie dann zu
Pariren; es klingt, als hätte erste aus den Wochenschriften jener Zeit zusammen¬
getragen. Da heißt es: „Wie elend ist das Gemische der Harlekinaden! Ohne
Wahl, ohne Ordnung, ohne Einheit, ohne Ton, ohne Absicht .... Niedrig
kriechend, unanständig, possenhaft . . . voller Zoten, liederlicher Anspielungen,
ausgestopfter leerer Einfülle, ewiger Sprichwörter ... ist alles, was wir noch
bisher von diesen so hoch gerühmten Caricatnrgemälden gesehen haben." Alle
Angriffe richteten sich gegen die Rohheit und Albernheit vou .Harlekins Späßen,
gegen seine ausländische Herkunft, gegen das langweilige Einerlei seines Wesens
und seiner äußern Erscheinung. Das Hauptgebrechen wurde nirgends auch nur
mit einer Silbe berührt.

Auch bei Gottsched ist natürlich nicht daran zu denken, daß er in diesem
Punkte weiter gesehen habe, als Lessing. Auch Gottsched hatte keine Ahnung
davon, daß es, wie Roquette in seiner „Geschichte der deutschen Dichtung"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/499>, abgerufen am 28.09.2024.