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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Hauptfiguren erhalten wir eine deutliche Vorstellung, einzelne treten geradezu
Plastisch heraus.

Es ist wahr, der Verfasser ist keineswegs unparteiisch; seine Erzählung
trägt eine ganz bestimmte Färbung, Freund und Feind werden uicht mit dem¬
selben Maße gemessen. Allein wenn dies bei andern Klosterchrvnisten weniger
hervortritt, so ist daran uicht ihre größere Wahrheitsliebe schuld, sondern ein¬
fach der Umstand, daß ihre Berichte sich eben ans Dinge beschränken, die ihnen
gleichgiltig sind. Was allenfalls im Stande wäre, ihre Gefühle in Aufregung
zu bringen, das wird eben gewöhnlich nicht erwähnt. Aus der Neresheimer
Chronik z. B. von 1755--1773, verfaßt von einem älteren Ordensbruder
nack's, dem Urbins Faulhaber, erfahren wir eines nicht mit einer
Silbe, daß während dieser ganzen Zeit ein heilloser Despot -- er
hieß Benedikt Maria Angern und regierte von 1755--1787 -- das Seepter
im Kloster führte, und daß der Schreiber selbst unter den Launen des Tyrannen
vielfach zu leiden hatte. Wir wissen ferner, daß der 43. oder drittletzte Abt,
Aurelius Braisch, der Vorgänger des ebeugennnnten von 1739--1755, ein
lüderlicher Patron war, der sich besonders in seinem Umgänge mit dem schönen
Geschlechte die grcwirendsten Dinge zu Schulden kommen ließ, so daß schon
1744 nach einer bischöflichen Visitation für gut befunden wurde, ihm den
Beichtstuhl, den er zum Einsaugen von Weibern mißbraucht hatte, gänzlich zu
verbieten, bis endlich der Skandal so überHand nahm, daß man ihn zwang
abzudanken. Jedoch in einer längeren Reihe gleichzeitiger Aufzeichnungen über
diesen Herrn findet sich auch nicht die leiseste Anspielung auf diese Dinge; der
Abt könnte danach gerade so gilt ein Engel gewesen sein. Unparteilichkeit ist
kein Verdienst, wenn man sorgfältig alles zu berühren vermeidet, wobei Ge¬
legenheit gegeben wäre, Zuneigung oder Abneigung an den Tag zu legen.
Uebrigens soll nicht behauptet werden, daß nack gerade in seinen Tage¬
büchern mit Bewußtsein unwahres oder halbwahres berichte. Wenn seine
Erzählung für die Öffentlichkeit bestimmt ist, so stellt er allerdings, wie sich
zeigen wird, die Dinge anders dar, als er wissen mußte, daß sie waren. In
den Tagebüchern aber, wo er nur für sich und einige Freunde schreibt, gibt
er offenbar unbefangen und ohne Rückhalt alles fo wieder, wie es ihm
erscheint.

Aus nack's Erzählung nun, im Verein mit einer großen Anzahl von
Briefen und andern Dokumenten verschiedener Art, erhalten wir in der That
ein Bild von dem Leben und Treiben in einem schwäbischen Reichsstifte zur
Zeit der Aufklärung, das an Anschaulichkeit und Lebendigkeit seines gleichen
sucht. In Hunderten von Zügen werden uns die Leiden und Freuden der
Herren Patres, ihr Verkehr mit einander, mit ihren Beamten, Schülern und


Hauptfiguren erhalten wir eine deutliche Vorstellung, einzelne treten geradezu
Plastisch heraus.

Es ist wahr, der Verfasser ist keineswegs unparteiisch; seine Erzählung
trägt eine ganz bestimmte Färbung, Freund und Feind werden uicht mit dem¬
selben Maße gemessen. Allein wenn dies bei andern Klosterchrvnisten weniger
hervortritt, so ist daran uicht ihre größere Wahrheitsliebe schuld, sondern ein¬
fach der Umstand, daß ihre Berichte sich eben ans Dinge beschränken, die ihnen
gleichgiltig sind. Was allenfalls im Stande wäre, ihre Gefühle in Aufregung
zu bringen, das wird eben gewöhnlich nicht erwähnt. Aus der Neresheimer
Chronik z. B. von 1755—1773, verfaßt von einem älteren Ordensbruder
nack's, dem Urbins Faulhaber, erfahren wir eines nicht mit einer
Silbe, daß während dieser ganzen Zeit ein heilloser Despot — er
hieß Benedikt Maria Angern und regierte von 1755—1787 — das Seepter
im Kloster führte, und daß der Schreiber selbst unter den Launen des Tyrannen
vielfach zu leiden hatte. Wir wissen ferner, daß der 43. oder drittletzte Abt,
Aurelius Braisch, der Vorgänger des ebeugennnnten von 1739—1755, ein
lüderlicher Patron war, der sich besonders in seinem Umgänge mit dem schönen
Geschlechte die grcwirendsten Dinge zu Schulden kommen ließ, so daß schon
1744 nach einer bischöflichen Visitation für gut befunden wurde, ihm den
Beichtstuhl, den er zum Einsaugen von Weibern mißbraucht hatte, gänzlich zu
verbieten, bis endlich der Skandal so überHand nahm, daß man ihn zwang
abzudanken. Jedoch in einer längeren Reihe gleichzeitiger Aufzeichnungen über
diesen Herrn findet sich auch nicht die leiseste Anspielung auf diese Dinge; der
Abt könnte danach gerade so gilt ein Engel gewesen sein. Unparteilichkeit ist
kein Verdienst, wenn man sorgfältig alles zu berühren vermeidet, wobei Ge¬
legenheit gegeben wäre, Zuneigung oder Abneigung an den Tag zu legen.
Uebrigens soll nicht behauptet werden, daß nack gerade in seinen Tage¬
büchern mit Bewußtsein unwahres oder halbwahres berichte. Wenn seine
Erzählung für die Öffentlichkeit bestimmt ist, so stellt er allerdings, wie sich
zeigen wird, die Dinge anders dar, als er wissen mußte, daß sie waren. In
den Tagebüchern aber, wo er nur für sich und einige Freunde schreibt, gibt
er offenbar unbefangen und ohne Rückhalt alles fo wieder, wie es ihm
erscheint.

Aus nack's Erzählung nun, im Verein mit einer großen Anzahl von
Briefen und andern Dokumenten verschiedener Art, erhalten wir in der That
ein Bild von dem Leben und Treiben in einem schwäbischen Reichsstifte zur
Zeit der Aufklärung, das an Anschaulichkeit und Lebendigkeit seines gleichen
sucht. In Hunderten von Zügen werden uns die Leiden und Freuden der
Herren Patres, ihr Verkehr mit einander, mit ihren Beamten, Schülern und


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[0421] Hauptfiguren erhalten wir eine deutliche Vorstellung, einzelne treten geradezu Plastisch heraus. Es ist wahr, der Verfasser ist keineswegs unparteiisch; seine Erzählung trägt eine ganz bestimmte Färbung, Freund und Feind werden uicht mit dem¬ selben Maße gemessen. Allein wenn dies bei andern Klosterchrvnisten weniger hervortritt, so ist daran uicht ihre größere Wahrheitsliebe schuld, sondern ein¬ fach der Umstand, daß ihre Berichte sich eben ans Dinge beschränken, die ihnen gleichgiltig sind. Was allenfalls im Stande wäre, ihre Gefühle in Aufregung zu bringen, das wird eben gewöhnlich nicht erwähnt. Aus der Neresheimer Chronik z. B. von 1755—1773, verfaßt von einem älteren Ordensbruder nack's, dem Urbins Faulhaber, erfahren wir eines nicht mit einer Silbe, daß während dieser ganzen Zeit ein heilloser Despot — er hieß Benedikt Maria Angern und regierte von 1755—1787 — das Seepter im Kloster führte, und daß der Schreiber selbst unter den Launen des Tyrannen vielfach zu leiden hatte. Wir wissen ferner, daß der 43. oder drittletzte Abt, Aurelius Braisch, der Vorgänger des ebeugennnnten von 1739—1755, ein lüderlicher Patron war, der sich besonders in seinem Umgänge mit dem schönen Geschlechte die grcwirendsten Dinge zu Schulden kommen ließ, so daß schon 1744 nach einer bischöflichen Visitation für gut befunden wurde, ihm den Beichtstuhl, den er zum Einsaugen von Weibern mißbraucht hatte, gänzlich zu verbieten, bis endlich der Skandal so überHand nahm, daß man ihn zwang abzudanken. Jedoch in einer längeren Reihe gleichzeitiger Aufzeichnungen über diesen Herrn findet sich auch nicht die leiseste Anspielung auf diese Dinge; der Abt könnte danach gerade so gilt ein Engel gewesen sein. Unparteilichkeit ist kein Verdienst, wenn man sorgfältig alles zu berühren vermeidet, wobei Ge¬ legenheit gegeben wäre, Zuneigung oder Abneigung an den Tag zu legen. Uebrigens soll nicht behauptet werden, daß nack gerade in seinen Tage¬ büchern mit Bewußtsein unwahres oder halbwahres berichte. Wenn seine Erzählung für die Öffentlichkeit bestimmt ist, so stellt er allerdings, wie sich zeigen wird, die Dinge anders dar, als er wissen mußte, daß sie waren. In den Tagebüchern aber, wo er nur für sich und einige Freunde schreibt, gibt er offenbar unbefangen und ohne Rückhalt alles fo wieder, wie es ihm erscheint. Aus nack's Erzählung nun, im Verein mit einer großen Anzahl von Briefen und andern Dokumenten verschiedener Art, erhalten wir in der That ein Bild von dem Leben und Treiben in einem schwäbischen Reichsstifte zur Zeit der Aufklärung, das an Anschaulichkeit und Lebendigkeit seines gleichen sucht. In Hunderten von Zügen werden uns die Leiden und Freuden der Herren Patres, ihr Verkehr mit einander, mit ihren Beamten, Schülern und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/421>, abgerufen am 28.09.2024.