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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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katholische Kultus, welcher anderwärts in Böhmen und Oesterreich so exklusiv
auftritt, macht hier sein Uebergewicht wenig fühlbar.

Um so mehr fällt es auf, die' alten religiösen Scheidcmaucrn an demjenigen
Orte wieder errichtet zu sehen, wo doch alle Menschen, weß Standes und
Glaubens sie sein mögen, zu ihrer ursprünglichen Gleichheit zurückkehren: auf
dem neuen allgemeinen Friedhof, auf welchem die katholische, die Protestantische
und die jüdische Abtheilung durch Mauern und Gitter streng von einander
geschieden sind. Uebrigens sieht jeder Protestant, eingedenk der schweren Ver¬
folgungen und Bedrückungen, welche seine Glaubensgenossen fast drei Jahr¬
hunderte lang in den Landen des Hanfes Habsburg erduldet haben, mit
innerlicher Befriedigung auf jedes evangelische Kirchlein, welches in den letzten
16 Jahren, seit dem Erlaß der jetzigen österreichischen Verfassung (1861) und
der erst hierdurch zugestandenen Religionsfreiheit, mit Hilfe des so segensreich
wirkenden und darum der kräftigsten Unterstützung würdigen Gustav-Adolf-
Vereins auf östreichischen Boden gebaut wird.

Uuter den nichtchristlichen Kurgästen Karlsbads nehmen die Juden der Zahl
uach die erste Stelle ein, und zwar vorzugsweise die bekannten in der Ge¬
stalt der polnischen Juden, die Männer in dem langen, oft ziemlich schmutzigen
Kaftan, dazu mit den althergebrachten, künstlich gedrehten Locken an beiden
Wangen, die Frauen nach strenger talmndischer Sitte noch mit Perrücken, da
sie nach ihrer Verheirathung grausamer Weise ihr schönes, glänzend schwarzes
Haar abschneiden oder doch wenigstens verbergen müssen, um nicht die Blicke
fremder Männer dadurch auf sich zu ziehen. Eine köstliche Schilderung dieser
polnischen Juden gibt der Karlsbader Arzt Dr. Fleckles, welcher unter dem
Pseudonym "Julius Walter" eine Reihe geistreich und anmuthig geschriebener
Karlsbader Skizzen in seinen "Sprudelsteinen" und "Neuen Sprudelsteinen"
zusammengestellt hat. Nach seiner Schilderung bezeichnet der polnische Jude,
welcher Karlsbad besucht, sein Leiden als "Gebiß in die Füß" oder "Gereiß
im Gedärm" oder "Gedrück im Gcschlüng." Auffallend ist es, daß man den
polnischen Juden fast nie auf den Promenaden der Umgegend findet; er hält
sich in hellen Häuser mit Vorliebe fast den ganzen Tag auf den Bänken in
der Nähe der Quellen auf, als ob er für seine Kur keinen Augenblick verlieren
und selbst aus dem Wasserdunst der heißen Brunnen Gewinn ziehen wolle.

Interessant ist anch, was or. Fleckles über die geschichtlichen Wandlungen
mittheilt, welche die Karlsbader Kur in den letzten drei Jahrhunderten erfahren
hat. Bis 1520 wurde in Karlsbad nur gebadet, nicht getrunken, und zwar so
lange, bis daß heiße Mineralwasser die Haut cmfbiß. Diese Kur nannte man
die "Hautfresserkur". Die elf ersten Tage mußte der Patient 6--10 Stunden
in lauem Sprudelwasser sitzen, bis der gewünschte Erfolg des Aufbeißens der Haut


katholische Kultus, welcher anderwärts in Böhmen und Oesterreich so exklusiv
auftritt, macht hier sein Uebergewicht wenig fühlbar.

Um so mehr fällt es auf, die' alten religiösen Scheidcmaucrn an demjenigen
Orte wieder errichtet zu sehen, wo doch alle Menschen, weß Standes und
Glaubens sie sein mögen, zu ihrer ursprünglichen Gleichheit zurückkehren: auf
dem neuen allgemeinen Friedhof, auf welchem die katholische, die Protestantische
und die jüdische Abtheilung durch Mauern und Gitter streng von einander
geschieden sind. Uebrigens sieht jeder Protestant, eingedenk der schweren Ver¬
folgungen und Bedrückungen, welche seine Glaubensgenossen fast drei Jahr¬
hunderte lang in den Landen des Hanfes Habsburg erduldet haben, mit
innerlicher Befriedigung auf jedes evangelische Kirchlein, welches in den letzten
16 Jahren, seit dem Erlaß der jetzigen österreichischen Verfassung (1861) und
der erst hierdurch zugestandenen Religionsfreiheit, mit Hilfe des so segensreich
wirkenden und darum der kräftigsten Unterstützung würdigen Gustav-Adolf-
Vereins auf östreichischen Boden gebaut wird.

Uuter den nichtchristlichen Kurgästen Karlsbads nehmen die Juden der Zahl
uach die erste Stelle ein, und zwar vorzugsweise die bekannten in der Ge¬
stalt der polnischen Juden, die Männer in dem langen, oft ziemlich schmutzigen
Kaftan, dazu mit den althergebrachten, künstlich gedrehten Locken an beiden
Wangen, die Frauen nach strenger talmndischer Sitte noch mit Perrücken, da
sie nach ihrer Verheirathung grausamer Weise ihr schönes, glänzend schwarzes
Haar abschneiden oder doch wenigstens verbergen müssen, um nicht die Blicke
fremder Männer dadurch auf sich zu ziehen. Eine köstliche Schilderung dieser
polnischen Juden gibt der Karlsbader Arzt Dr. Fleckles, welcher unter dem
Pseudonym „Julius Walter" eine Reihe geistreich und anmuthig geschriebener
Karlsbader Skizzen in seinen „Sprudelsteinen" und „Neuen Sprudelsteinen"
zusammengestellt hat. Nach seiner Schilderung bezeichnet der polnische Jude,
welcher Karlsbad besucht, sein Leiden als „Gebiß in die Füß" oder „Gereiß
im Gedärm" oder „Gedrück im Gcschlüng." Auffallend ist es, daß man den
polnischen Juden fast nie auf den Promenaden der Umgegend findet; er hält
sich in hellen Häuser mit Vorliebe fast den ganzen Tag auf den Bänken in
der Nähe der Quellen auf, als ob er für seine Kur keinen Augenblick verlieren
und selbst aus dem Wasserdunst der heißen Brunnen Gewinn ziehen wolle.

Interessant ist anch, was or. Fleckles über die geschichtlichen Wandlungen
mittheilt, welche die Karlsbader Kur in den letzten drei Jahrhunderten erfahren
hat. Bis 1520 wurde in Karlsbad nur gebadet, nicht getrunken, und zwar so
lange, bis daß heiße Mineralwasser die Haut cmfbiß. Diese Kur nannte man
die „Hautfresserkur". Die elf ersten Tage mußte der Patient 6—10 Stunden
in lauem Sprudelwasser sitzen, bis der gewünschte Erfolg des Aufbeißens der Haut


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[0398] katholische Kultus, welcher anderwärts in Böhmen und Oesterreich so exklusiv auftritt, macht hier sein Uebergewicht wenig fühlbar. Um so mehr fällt es auf, die' alten religiösen Scheidcmaucrn an demjenigen Orte wieder errichtet zu sehen, wo doch alle Menschen, weß Standes und Glaubens sie sein mögen, zu ihrer ursprünglichen Gleichheit zurückkehren: auf dem neuen allgemeinen Friedhof, auf welchem die katholische, die Protestantische und die jüdische Abtheilung durch Mauern und Gitter streng von einander geschieden sind. Uebrigens sieht jeder Protestant, eingedenk der schweren Ver¬ folgungen und Bedrückungen, welche seine Glaubensgenossen fast drei Jahr¬ hunderte lang in den Landen des Hanfes Habsburg erduldet haben, mit innerlicher Befriedigung auf jedes evangelische Kirchlein, welches in den letzten 16 Jahren, seit dem Erlaß der jetzigen österreichischen Verfassung (1861) und der erst hierdurch zugestandenen Religionsfreiheit, mit Hilfe des so segensreich wirkenden und darum der kräftigsten Unterstützung würdigen Gustav-Adolf- Vereins auf östreichischen Boden gebaut wird. Uuter den nichtchristlichen Kurgästen Karlsbads nehmen die Juden der Zahl uach die erste Stelle ein, und zwar vorzugsweise die bekannten in der Ge¬ stalt der polnischen Juden, die Männer in dem langen, oft ziemlich schmutzigen Kaftan, dazu mit den althergebrachten, künstlich gedrehten Locken an beiden Wangen, die Frauen nach strenger talmndischer Sitte noch mit Perrücken, da sie nach ihrer Verheirathung grausamer Weise ihr schönes, glänzend schwarzes Haar abschneiden oder doch wenigstens verbergen müssen, um nicht die Blicke fremder Männer dadurch auf sich zu ziehen. Eine köstliche Schilderung dieser polnischen Juden gibt der Karlsbader Arzt Dr. Fleckles, welcher unter dem Pseudonym „Julius Walter" eine Reihe geistreich und anmuthig geschriebener Karlsbader Skizzen in seinen „Sprudelsteinen" und „Neuen Sprudelsteinen" zusammengestellt hat. Nach seiner Schilderung bezeichnet der polnische Jude, welcher Karlsbad besucht, sein Leiden als „Gebiß in die Füß" oder „Gereiß im Gedärm" oder „Gedrück im Gcschlüng." Auffallend ist es, daß man den polnischen Juden fast nie auf den Promenaden der Umgegend findet; er hält sich in hellen Häuser mit Vorliebe fast den ganzen Tag auf den Bänken in der Nähe der Quellen auf, als ob er für seine Kur keinen Augenblick verlieren und selbst aus dem Wasserdunst der heißen Brunnen Gewinn ziehen wolle. Interessant ist anch, was or. Fleckles über die geschichtlichen Wandlungen mittheilt, welche die Karlsbader Kur in den letzten drei Jahrhunderten erfahren hat. Bis 1520 wurde in Karlsbad nur gebadet, nicht getrunken, und zwar so lange, bis daß heiße Mineralwasser die Haut cmfbiß. Diese Kur nannte man die „Hautfresserkur". Die elf ersten Tage mußte der Patient 6—10 Stunden in lauem Sprudelwasser sitzen, bis der gewünschte Erfolg des Aufbeißens der Haut

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/398>, abgerufen am 29.09.2024.