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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Benutzung der auf ihren: Bahngebiet liegenden Theile der Gotthardbahn zur
Verfügung stellten. Die Nordostbahn stellte die Linie Luzern-Rothkrenz, die
Centralbahn den Bahnhof Luzern und durch die aargauische Südbahn die
Linie Rvthkreuz-Jnunenfee zur Verfügung.

Nichts war indessen überzeugend genug, um Bern und Luzern zu weiteren
Beiträgen zu vermögen. Bern hätte sich schon durch die einfache Berechnung
belehren lassen sollen, daß selbst bei Herstellung der "verschobenen" Linie
Luzern-Jmmensee kein Passagier und kein Kilo Waare aus Deutschland oder
der Ostschweiz sich nöthigen lassen werde, nur für die schönen Augen des
Entlibuch den Umweg über Bern-Luzern zu machen, und daß dagegen der Um¬
weg von Luzern über Rothkreuz statt der direkten Verbindung zwischeu Luzern-
Jmmensee nur 10 Kilometer betrage, also eine gegenüber der Totallänge der
ganzen Gotthardbahn von 175 Kilometern fast verschwindende Kleinigkeit.
Luzern seinerseits durfte, außer mit denselben Gründen, noch damit sein Selbst¬
gefühl beruhigen, daß Luzern nach wie vor Sitz und Ausgangspunkt der Gott¬
hardbahn bleibt und die Züge dieser Bahn daher nominell immer von Luzern
cuislanfen müssen. Vor allem ging aber den Vertretern der beiden großen
Kantone jede Ahnung für die Größe der Frage, jede Empfindung für die ge-
smiuntschweizerischen Interessen, die dabei betheiligt waren, vollständig ab. Ja,
nicht einmal das Schlußprotokvll der internationalen Kommission hatte man
sich genau augesehen. Man sprach leidenschaftlich über die Willkür, welche drei
wichtige Linien einfach weggestrichen habe, wo es sich nur um momentan "ver¬
schobene Linien" handelt. Ebenso befangen urtheilte Tessin, obwohl diesem
Kanton der alsbaldige -- möglicherweise noch vor der Linie Jmmensee-Pluv
beginnende -- Bau der Monte-Cenere-Linie noch extra von Seiten eines
Bundesrathes in sichere Aussicht gestellt worden war; denn in politisch-strate¬
gischer Hinsicht ist der Schweiz diese Linie ebenso unentbehrlich, wie in volks-
wirthschaftlicher Hinsicht der Stadt Mailand und der Lombardei überhaupt.
Die Vertreter der Kantone Solothurn, Zug und der drei Urkantone ließen sich
von den drei genannten rennenden Kantonen in's Schlepptau nehmen und ver¬
weigerten gleichfalls jeden weiteren Beitrag. Es half nichts, daß die Vertreter
der Stadt und Landschaft Basel erklärten: "die schweizerische Politik und Ehre
sei mit dem Gotthard verknüpft, und das Aufgeben des Unternehmens müsse
als ein Zeichen der Nichtberechtigung der Schweiz zu einer selbständigen Exi¬
stenz angesehen werden." Es half nichts, daß Aargau, Thurgau, Schaffhausen
dieser Erklärung sich in würdiger Weise anschlössen. Die Konferenz vom 27.
Juli ging resultatlos auseinander.

Die Bestürzung über diesen Ausgang der Sache ist -- zu Ehren des
Schweizervvlkes sei dies gesagt -- eine allgemeine. Einmüthig vertreten die


Grenzlwten III. 1877. . 4V

Benutzung der auf ihren: Bahngebiet liegenden Theile der Gotthardbahn zur
Verfügung stellten. Die Nordostbahn stellte die Linie Luzern-Rothkrenz, die
Centralbahn den Bahnhof Luzern und durch die aargauische Südbahn die
Linie Rvthkreuz-Jnunenfee zur Verfügung.

Nichts war indessen überzeugend genug, um Bern und Luzern zu weiteren
Beiträgen zu vermögen. Bern hätte sich schon durch die einfache Berechnung
belehren lassen sollen, daß selbst bei Herstellung der „verschobenen" Linie
Luzern-Jmmensee kein Passagier und kein Kilo Waare aus Deutschland oder
der Ostschweiz sich nöthigen lassen werde, nur für die schönen Augen des
Entlibuch den Umweg über Bern-Luzern zu machen, und daß dagegen der Um¬
weg von Luzern über Rothkreuz statt der direkten Verbindung zwischeu Luzern-
Jmmensee nur 10 Kilometer betrage, also eine gegenüber der Totallänge der
ganzen Gotthardbahn von 175 Kilometern fast verschwindende Kleinigkeit.
Luzern seinerseits durfte, außer mit denselben Gründen, noch damit sein Selbst¬
gefühl beruhigen, daß Luzern nach wie vor Sitz und Ausgangspunkt der Gott¬
hardbahn bleibt und die Züge dieser Bahn daher nominell immer von Luzern
cuislanfen müssen. Vor allem ging aber den Vertretern der beiden großen
Kantone jede Ahnung für die Größe der Frage, jede Empfindung für die ge-
smiuntschweizerischen Interessen, die dabei betheiligt waren, vollständig ab. Ja,
nicht einmal das Schlußprotokvll der internationalen Kommission hatte man
sich genau augesehen. Man sprach leidenschaftlich über die Willkür, welche drei
wichtige Linien einfach weggestrichen habe, wo es sich nur um momentan „ver¬
schobene Linien" handelt. Ebenso befangen urtheilte Tessin, obwohl diesem
Kanton der alsbaldige — möglicherweise noch vor der Linie Jmmensee-Pluv
beginnende — Bau der Monte-Cenere-Linie noch extra von Seiten eines
Bundesrathes in sichere Aussicht gestellt worden war; denn in politisch-strate¬
gischer Hinsicht ist der Schweiz diese Linie ebenso unentbehrlich, wie in volks-
wirthschaftlicher Hinsicht der Stadt Mailand und der Lombardei überhaupt.
Die Vertreter der Kantone Solothurn, Zug und der drei Urkantone ließen sich
von den drei genannten rennenden Kantonen in's Schlepptau nehmen und ver¬
weigerten gleichfalls jeden weiteren Beitrag. Es half nichts, daß die Vertreter
der Stadt und Landschaft Basel erklärten: „die schweizerische Politik und Ehre
sei mit dem Gotthard verknüpft, und das Aufgeben des Unternehmens müsse
als ein Zeichen der Nichtberechtigung der Schweiz zu einer selbständigen Exi¬
stenz angesehen werden." Es half nichts, daß Aargau, Thurgau, Schaffhausen
dieser Erklärung sich in würdiger Weise anschlössen. Die Konferenz vom 27.
Juli ging resultatlos auseinander.

Die Bestürzung über diesen Ausgang der Sache ist — zu Ehren des
Schweizervvlkes sei dies gesagt — eine allgemeine. Einmüthig vertreten die


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[0393] Benutzung der auf ihren: Bahngebiet liegenden Theile der Gotthardbahn zur Verfügung stellten. Die Nordostbahn stellte die Linie Luzern-Rothkrenz, die Centralbahn den Bahnhof Luzern und durch die aargauische Südbahn die Linie Rvthkreuz-Jnunenfee zur Verfügung. Nichts war indessen überzeugend genug, um Bern und Luzern zu weiteren Beiträgen zu vermögen. Bern hätte sich schon durch die einfache Berechnung belehren lassen sollen, daß selbst bei Herstellung der „verschobenen" Linie Luzern-Jmmensee kein Passagier und kein Kilo Waare aus Deutschland oder der Ostschweiz sich nöthigen lassen werde, nur für die schönen Augen des Entlibuch den Umweg über Bern-Luzern zu machen, und daß dagegen der Um¬ weg von Luzern über Rothkreuz statt der direkten Verbindung zwischeu Luzern- Jmmensee nur 10 Kilometer betrage, also eine gegenüber der Totallänge der ganzen Gotthardbahn von 175 Kilometern fast verschwindende Kleinigkeit. Luzern seinerseits durfte, außer mit denselben Gründen, noch damit sein Selbst¬ gefühl beruhigen, daß Luzern nach wie vor Sitz und Ausgangspunkt der Gott¬ hardbahn bleibt und die Züge dieser Bahn daher nominell immer von Luzern cuislanfen müssen. Vor allem ging aber den Vertretern der beiden großen Kantone jede Ahnung für die Größe der Frage, jede Empfindung für die ge- smiuntschweizerischen Interessen, die dabei betheiligt waren, vollständig ab. Ja, nicht einmal das Schlußprotokvll der internationalen Kommission hatte man sich genau augesehen. Man sprach leidenschaftlich über die Willkür, welche drei wichtige Linien einfach weggestrichen habe, wo es sich nur um momentan „ver¬ schobene Linien" handelt. Ebenso befangen urtheilte Tessin, obwohl diesem Kanton der alsbaldige — möglicherweise noch vor der Linie Jmmensee-Pluv beginnende — Bau der Monte-Cenere-Linie noch extra von Seiten eines Bundesrathes in sichere Aussicht gestellt worden war; denn in politisch-strate¬ gischer Hinsicht ist der Schweiz diese Linie ebenso unentbehrlich, wie in volks- wirthschaftlicher Hinsicht der Stadt Mailand und der Lombardei überhaupt. Die Vertreter der Kantone Solothurn, Zug und der drei Urkantone ließen sich von den drei genannten rennenden Kantonen in's Schlepptau nehmen und ver¬ weigerten gleichfalls jeden weiteren Beitrag. Es half nichts, daß die Vertreter der Stadt und Landschaft Basel erklärten: „die schweizerische Politik und Ehre sei mit dem Gotthard verknüpft, und das Aufgeben des Unternehmens müsse als ein Zeichen der Nichtberechtigung der Schweiz zu einer selbständigen Exi¬ stenz angesehen werden." Es half nichts, daß Aargau, Thurgau, Schaffhausen dieser Erklärung sich in würdiger Weise anschlössen. Die Konferenz vom 27. Juli ging resultatlos auseinander. Die Bestürzung über diesen Ausgang der Sache ist — zu Ehren des Schweizervvlkes sei dies gesagt — eine allgemeine. Einmüthig vertreten die Grenzlwten III. 1877. . 4V

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/393>, abgerufen am 28.09.2024.