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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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eine sonderbare Koalition von Unzufriedenen, die wir ein andermal charakteri-
siren wollen, Sturm gegen zwei der wichtigsten Gesetze, welche die jüngste
Bundesversammlung beschlossen hat, das Militärsteuergesetz und das Fabrik¬
gesetz. Bereits sind Stimmen genug angemeldet, um diese Gesetze, welche an
den patriotischen Gemeinsinn der Eidgenossen appelliren, den gefunden Staats-
gedanken enthalten, daß neben den Rechten und Freiheiten der Bürger auch
einige Pflichten von denselben gefordert werden sollen, dem Würfelspiel des
Referendums anheimzugeben und damit eine uach Jahren zählende gesetzgebe¬
rische Arbeit von neuem durchaus in Frage zu stellen. Ja, es sind nicht die
schlechtesten Patrioten der Schweiz, welche fürchten, daß das Danaergeschenk
des Referendums, das die neue schweizerische Bundesverfassung der souveränen
Volksmasse bescheerte, allmählich dahin führen werde, den gesunden Bürgersinn,
den zum Bestehen jedes Staates unentbehrlichen Grundgedanken der Bürger¬
pflicht, mehr und mehr zu zerstören. Der schrankenlose Radikalismus und die
sozialistischen und ultramontanen Todfeinde des eidgenössischen Bundesstaates
werden wenigstens allezeit bereit sein, über Verrath der Freiheit und Rechte
des Volkes später zu schreien und an das Referendum zu appelliren, sobald
ein Kanton oder der Bund sich genöthigt sehen sollte, durch Gesetz dem Volke
neue Pflichten aufzuerlegen oder vielleicht auch nur dem allgemeinen Bewußt¬
sein etwas entschwundene Pflichten durch gewisse Gesetze wieder in lebhaftere
Erinnerung zu bringen.

Man verzeihe die Abschweifung, die sich von selbst aufdrängte. segens¬
reich für das Unternehmen der Gotthardliine, für die ohnehin preeäre Stellung
der Gotthardbahngesellschaft und die sehr bedeutenden finanziellen Interessen
auch nichtschweizerischer Staaten war es keinesfalls, daß das Hellwag'sche
Gutachten mit seiner 102 Millionen-Nachforderung zur allgemeinen Kenntniß
gebracht wurde. Und die Nothwendigkeit dieser öffentlichen Mittheilung er¬
scheint um so fraglicher, da ja Herr Hellwag keineswegs das letzte Wort in
der Sache zu sprechen berufen war, souderu der Bundesrath, die Kantonsre¬
gierungen und die mit der Schweiz beim Gotthardnnternehmcn verbündeten
Vertragsstaaten Deutschland und Italien. Herr Hellwag war zudem nicht
ganz objektiv. Der Techniker wird ein so großes Unternehmen in seinen An¬
schlägen stets möglichst glänzend dotiren. Auch der Verdienst ist dadurch am
sichersten gewahrt.

Der Bundesrath ließ seinerseits eine Kommission von Sachverständigen die
Gotthardliine bereisen und studiren und das Hellwag'sche Gutachten eingehend
Prüfen und gelangte hiernach zu dem Ergebnisse, daß bei Ausführung aller
ursprünglich dem Gotthardunteruehmen affiliirten Nebenlinien keineswegs
U'2, sondern nur 74 Millionen Franken Mehrbedarf erforderlich seien, d. h.


eine sonderbare Koalition von Unzufriedenen, die wir ein andermal charakteri-
siren wollen, Sturm gegen zwei der wichtigsten Gesetze, welche die jüngste
Bundesversammlung beschlossen hat, das Militärsteuergesetz und das Fabrik¬
gesetz. Bereits sind Stimmen genug angemeldet, um diese Gesetze, welche an
den patriotischen Gemeinsinn der Eidgenossen appelliren, den gefunden Staats-
gedanken enthalten, daß neben den Rechten und Freiheiten der Bürger auch
einige Pflichten von denselben gefordert werden sollen, dem Würfelspiel des
Referendums anheimzugeben und damit eine uach Jahren zählende gesetzgebe¬
rische Arbeit von neuem durchaus in Frage zu stellen. Ja, es sind nicht die
schlechtesten Patrioten der Schweiz, welche fürchten, daß das Danaergeschenk
des Referendums, das die neue schweizerische Bundesverfassung der souveränen
Volksmasse bescheerte, allmählich dahin führen werde, den gesunden Bürgersinn,
den zum Bestehen jedes Staates unentbehrlichen Grundgedanken der Bürger¬
pflicht, mehr und mehr zu zerstören. Der schrankenlose Radikalismus und die
sozialistischen und ultramontanen Todfeinde des eidgenössischen Bundesstaates
werden wenigstens allezeit bereit sein, über Verrath der Freiheit und Rechte
des Volkes später zu schreien und an das Referendum zu appelliren, sobald
ein Kanton oder der Bund sich genöthigt sehen sollte, durch Gesetz dem Volke
neue Pflichten aufzuerlegen oder vielleicht auch nur dem allgemeinen Bewußt¬
sein etwas entschwundene Pflichten durch gewisse Gesetze wieder in lebhaftere
Erinnerung zu bringen.

Man verzeihe die Abschweifung, die sich von selbst aufdrängte. segens¬
reich für das Unternehmen der Gotthardliine, für die ohnehin preeäre Stellung
der Gotthardbahngesellschaft und die sehr bedeutenden finanziellen Interessen
auch nichtschweizerischer Staaten war es keinesfalls, daß das Hellwag'sche
Gutachten mit seiner 102 Millionen-Nachforderung zur allgemeinen Kenntniß
gebracht wurde. Und die Nothwendigkeit dieser öffentlichen Mittheilung er¬
scheint um so fraglicher, da ja Herr Hellwag keineswegs das letzte Wort in
der Sache zu sprechen berufen war, souderu der Bundesrath, die Kantonsre¬
gierungen und die mit der Schweiz beim Gotthardnnternehmcn verbündeten
Vertragsstaaten Deutschland und Italien. Herr Hellwag war zudem nicht
ganz objektiv. Der Techniker wird ein so großes Unternehmen in seinen An¬
schlägen stets möglichst glänzend dotiren. Auch der Verdienst ist dadurch am
sichersten gewahrt.

Der Bundesrath ließ seinerseits eine Kommission von Sachverständigen die
Gotthardliine bereisen und studiren und das Hellwag'sche Gutachten eingehend
Prüfen und gelangte hiernach zu dem Ergebnisse, daß bei Ausführung aller
ursprünglich dem Gotthardunteruehmen affiliirten Nebenlinien keineswegs
U'2, sondern nur 74 Millionen Franken Mehrbedarf erforderlich seien, d. h.


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[0389] eine sonderbare Koalition von Unzufriedenen, die wir ein andermal charakteri- siren wollen, Sturm gegen zwei der wichtigsten Gesetze, welche die jüngste Bundesversammlung beschlossen hat, das Militärsteuergesetz und das Fabrik¬ gesetz. Bereits sind Stimmen genug angemeldet, um diese Gesetze, welche an den patriotischen Gemeinsinn der Eidgenossen appelliren, den gefunden Staats- gedanken enthalten, daß neben den Rechten und Freiheiten der Bürger auch einige Pflichten von denselben gefordert werden sollen, dem Würfelspiel des Referendums anheimzugeben und damit eine uach Jahren zählende gesetzgebe¬ rische Arbeit von neuem durchaus in Frage zu stellen. Ja, es sind nicht die schlechtesten Patrioten der Schweiz, welche fürchten, daß das Danaergeschenk des Referendums, das die neue schweizerische Bundesverfassung der souveränen Volksmasse bescheerte, allmählich dahin führen werde, den gesunden Bürgersinn, den zum Bestehen jedes Staates unentbehrlichen Grundgedanken der Bürger¬ pflicht, mehr und mehr zu zerstören. Der schrankenlose Radikalismus und die sozialistischen und ultramontanen Todfeinde des eidgenössischen Bundesstaates werden wenigstens allezeit bereit sein, über Verrath der Freiheit und Rechte des Volkes später zu schreien und an das Referendum zu appelliren, sobald ein Kanton oder der Bund sich genöthigt sehen sollte, durch Gesetz dem Volke neue Pflichten aufzuerlegen oder vielleicht auch nur dem allgemeinen Bewußt¬ sein etwas entschwundene Pflichten durch gewisse Gesetze wieder in lebhaftere Erinnerung zu bringen. Man verzeihe die Abschweifung, die sich von selbst aufdrängte. segens¬ reich für das Unternehmen der Gotthardliine, für die ohnehin preeäre Stellung der Gotthardbahngesellschaft und die sehr bedeutenden finanziellen Interessen auch nichtschweizerischer Staaten war es keinesfalls, daß das Hellwag'sche Gutachten mit seiner 102 Millionen-Nachforderung zur allgemeinen Kenntniß gebracht wurde. Und die Nothwendigkeit dieser öffentlichen Mittheilung er¬ scheint um so fraglicher, da ja Herr Hellwag keineswegs das letzte Wort in der Sache zu sprechen berufen war, souderu der Bundesrath, die Kantonsre¬ gierungen und die mit der Schweiz beim Gotthardnnternehmcn verbündeten Vertragsstaaten Deutschland und Italien. Herr Hellwag war zudem nicht ganz objektiv. Der Techniker wird ein so großes Unternehmen in seinen An¬ schlägen stets möglichst glänzend dotiren. Auch der Verdienst ist dadurch am sichersten gewahrt. Der Bundesrath ließ seinerseits eine Kommission von Sachverständigen die Gotthardliine bereisen und studiren und das Hellwag'sche Gutachten eingehend Prüfen und gelangte hiernach zu dem Ergebnisse, daß bei Ausführung aller ursprünglich dem Gotthardunteruehmen affiliirten Nebenlinien keineswegs U'2, sondern nur 74 Millionen Franken Mehrbedarf erforderlich seien, d. h.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/389>, abgerufen am 28.09.2024.