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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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Bekanntlich stellte sich bereits drei Jahre nach Beginn der Arbeiten an
der Gotthardlinie heraus, daß der seiner Zeit zur Ausführung dieses Unter¬
nehmens veranschlagte und in den Jahren 1869/70 dnrch Staatsverträge zwi¬
schen Deutschland, Italien und der Schweiz gesicherte Kapitalbetrag bei weitem
nicht ausreichen werde, um die Gotthardbahn mit all den in jenen Voran¬
schlägen auf Betreiben der einzelnen Schweizerkantvne in Verbindung gebrachten
Nebenlinien herzustellen. Zu Anfang des Jahres 1876 bezifferte ein Gutachten
des Oberingenieurs Hellwag die den ursprünglichen Voranschlag übersteigende
Summe ans 102 Millionen Franken; eine Kleinigkeit allerdings gegenüber den
an das Phantastische streifenden Zahlen, welche vorher als Mehrbedarf für
die Gotthardliuie gerüchtweise genannt worden waren, aber immerhin eine so
ungeheure Ueberschreitung der ursprünglichen Bansumme, daß alle Welt und
nicht am wenigsten die zunächst betheiligte Schweiz sich aufs höchste verwun¬
derte und entsetzte. Die Losung, die Angesichts dieser neuen Kosteuanschläge
damals ziemlich allgemein ausgegeben wurde, hatte eine verhängnißvolle Aehn-
lichkeit mit dem Rufe spielmüder Kinder: Wir thun nicht mehr mit.

Diese üble Laune, wenn nicht aller Betheiligten, so doch gewiß der
Schweiz, wäre vielleicht nie in dem Maße wie dies dnrch den Hellwag'schen
Bericht geschah, aufgekommen, wenn es in der Schweiz möglich wäre, das
Amtsgeheimniß in einem in monarchischen Staaten gewohnheitsmäßig einge¬
haltenen Maße zu wahren -- man braucht dabei noch lange nicht an eine
Auffassung des Amtsgeheimnisses zu denken, wie sie etwa im Königreiche
Sachsen geübt wird, wo die Regierung jeweilig bis wenige Wochen vor Er¬
öffnung des Landtages sowohl über den Zeitpunkt der Ergänzmugswahlen, als
über die dem Landtage vorzulegenden Gesetzentwürfe das denkbar undurch¬
dringlichste Stillschweigen beobachtet. Hier in der Schweiz herrscht das ent¬
gegengesetzte Extrem. Das Volk ist der Souverän. Wehe den Regierenden,
die sich einbilden sollten, am grünen Tische eine wichtige Frage der Politik
oder Volkswirthschaft entscheiden oder auch nur vorbereiten und spruchreif
machen zu können, ehe dieselbe dem Souverän in allem Detail zur Diskussion
in der Presse, in Versammlungen und am Biertisch preisgegeben worden ist.
Ueber Regierenden, die sich ihrer Abhängigkeit vom Souverän so wenig be¬
wußt sein sollten, häugt allezeit das Damoklesschwert des Referendums, der
unmittelbaren Volksabstimmung, welches selbst solche Gesetze an einem ein¬
zigen Abstimmungstage noch hinwegraffen kann, die nach jahrelangen Mühen
der Bundesbeamten und nach den eingehendsten und sorgfältigsten Verhand¬
lungen im Schooße der Bundesversammlung durch die vom Volke unmittelbar
gewählten Vertreter (Nationalräthe) und die Abgeordneten der Kantvnsregie-
ruugeu (Ständeräthe) vereinbart und verkündet worden sind. So läuft jetzt


Bekanntlich stellte sich bereits drei Jahre nach Beginn der Arbeiten an
der Gotthardlinie heraus, daß der seiner Zeit zur Ausführung dieses Unter¬
nehmens veranschlagte und in den Jahren 1869/70 dnrch Staatsverträge zwi¬
schen Deutschland, Italien und der Schweiz gesicherte Kapitalbetrag bei weitem
nicht ausreichen werde, um die Gotthardbahn mit all den in jenen Voran¬
schlägen auf Betreiben der einzelnen Schweizerkantvne in Verbindung gebrachten
Nebenlinien herzustellen. Zu Anfang des Jahres 1876 bezifferte ein Gutachten
des Oberingenieurs Hellwag die den ursprünglichen Voranschlag übersteigende
Summe ans 102 Millionen Franken; eine Kleinigkeit allerdings gegenüber den
an das Phantastische streifenden Zahlen, welche vorher als Mehrbedarf für
die Gotthardliuie gerüchtweise genannt worden waren, aber immerhin eine so
ungeheure Ueberschreitung der ursprünglichen Bansumme, daß alle Welt und
nicht am wenigsten die zunächst betheiligte Schweiz sich aufs höchste verwun¬
derte und entsetzte. Die Losung, die Angesichts dieser neuen Kosteuanschläge
damals ziemlich allgemein ausgegeben wurde, hatte eine verhängnißvolle Aehn-
lichkeit mit dem Rufe spielmüder Kinder: Wir thun nicht mehr mit.

Diese üble Laune, wenn nicht aller Betheiligten, so doch gewiß der
Schweiz, wäre vielleicht nie in dem Maße wie dies dnrch den Hellwag'schen
Bericht geschah, aufgekommen, wenn es in der Schweiz möglich wäre, das
Amtsgeheimniß in einem in monarchischen Staaten gewohnheitsmäßig einge¬
haltenen Maße zu wahren — man braucht dabei noch lange nicht an eine
Auffassung des Amtsgeheimnisses zu denken, wie sie etwa im Königreiche
Sachsen geübt wird, wo die Regierung jeweilig bis wenige Wochen vor Er¬
öffnung des Landtages sowohl über den Zeitpunkt der Ergänzmugswahlen, als
über die dem Landtage vorzulegenden Gesetzentwürfe das denkbar undurch¬
dringlichste Stillschweigen beobachtet. Hier in der Schweiz herrscht das ent¬
gegengesetzte Extrem. Das Volk ist der Souverän. Wehe den Regierenden,
die sich einbilden sollten, am grünen Tische eine wichtige Frage der Politik
oder Volkswirthschaft entscheiden oder auch nur vorbereiten und spruchreif
machen zu können, ehe dieselbe dem Souverän in allem Detail zur Diskussion
in der Presse, in Versammlungen und am Biertisch preisgegeben worden ist.
Ueber Regierenden, die sich ihrer Abhängigkeit vom Souverän so wenig be¬
wußt sein sollten, häugt allezeit das Damoklesschwert des Referendums, der
unmittelbaren Volksabstimmung, welches selbst solche Gesetze an einem ein¬
zigen Abstimmungstage noch hinwegraffen kann, die nach jahrelangen Mühen
der Bundesbeamten und nach den eingehendsten und sorgfältigsten Verhand¬
lungen im Schooße der Bundesversammlung durch die vom Volke unmittelbar
gewählten Vertreter (Nationalräthe) und die Abgeordneten der Kantvnsregie-
ruugeu (Ständeräthe) vereinbart und verkündet worden sind. So läuft jetzt


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[0388] Bekanntlich stellte sich bereits drei Jahre nach Beginn der Arbeiten an der Gotthardlinie heraus, daß der seiner Zeit zur Ausführung dieses Unter¬ nehmens veranschlagte und in den Jahren 1869/70 dnrch Staatsverträge zwi¬ schen Deutschland, Italien und der Schweiz gesicherte Kapitalbetrag bei weitem nicht ausreichen werde, um die Gotthardbahn mit all den in jenen Voran¬ schlägen auf Betreiben der einzelnen Schweizerkantvne in Verbindung gebrachten Nebenlinien herzustellen. Zu Anfang des Jahres 1876 bezifferte ein Gutachten des Oberingenieurs Hellwag die den ursprünglichen Voranschlag übersteigende Summe ans 102 Millionen Franken; eine Kleinigkeit allerdings gegenüber den an das Phantastische streifenden Zahlen, welche vorher als Mehrbedarf für die Gotthardliuie gerüchtweise genannt worden waren, aber immerhin eine so ungeheure Ueberschreitung der ursprünglichen Bansumme, daß alle Welt und nicht am wenigsten die zunächst betheiligte Schweiz sich aufs höchste verwun¬ derte und entsetzte. Die Losung, die Angesichts dieser neuen Kosteuanschläge damals ziemlich allgemein ausgegeben wurde, hatte eine verhängnißvolle Aehn- lichkeit mit dem Rufe spielmüder Kinder: Wir thun nicht mehr mit. Diese üble Laune, wenn nicht aller Betheiligten, so doch gewiß der Schweiz, wäre vielleicht nie in dem Maße wie dies dnrch den Hellwag'schen Bericht geschah, aufgekommen, wenn es in der Schweiz möglich wäre, das Amtsgeheimniß in einem in monarchischen Staaten gewohnheitsmäßig einge¬ haltenen Maße zu wahren — man braucht dabei noch lange nicht an eine Auffassung des Amtsgeheimnisses zu denken, wie sie etwa im Königreiche Sachsen geübt wird, wo die Regierung jeweilig bis wenige Wochen vor Er¬ öffnung des Landtages sowohl über den Zeitpunkt der Ergänzmugswahlen, als über die dem Landtage vorzulegenden Gesetzentwürfe das denkbar undurch¬ dringlichste Stillschweigen beobachtet. Hier in der Schweiz herrscht das ent¬ gegengesetzte Extrem. Das Volk ist der Souverän. Wehe den Regierenden, die sich einbilden sollten, am grünen Tische eine wichtige Frage der Politik oder Volkswirthschaft entscheiden oder auch nur vorbereiten und spruchreif machen zu können, ehe dieselbe dem Souverän in allem Detail zur Diskussion in der Presse, in Versammlungen und am Biertisch preisgegeben worden ist. Ueber Regierenden, die sich ihrer Abhängigkeit vom Souverän so wenig be¬ wußt sein sollten, häugt allezeit das Damoklesschwert des Referendums, der unmittelbaren Volksabstimmung, welches selbst solche Gesetze an einem ein¬ zigen Abstimmungstage noch hinwegraffen kann, die nach jahrelangen Mühen der Bundesbeamten und nach den eingehendsten und sorgfältigsten Verhand¬ lungen im Schooße der Bundesversammlung durch die vom Volke unmittelbar gewählten Vertreter (Nationalräthe) und die Abgeordneten der Kantvnsregie- ruugeu (Ständeräthe) vereinbart und verkündet worden sind. So läuft jetzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/388>, abgerufen am 28.09.2024.