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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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archivalische Studien zu machen. Zlvar nicht das französische Staatsarchiv
selbst hat ihm offen gestanden, überaus werthvolle Aufschlüsse aber hat er
namentlich aus den Archiven zu Berlin und Turm geschöpft. Die Berichte
der betreffenden Gesandten geben die letzte Handhabe, die reiche französische
Literatur zur Geschichte des Julikönigthums, namentlich die Memoirenliteratnr,
berichtigend und ergänzend zu controliren. Fügen Nur aber gleich hinzu: Die
Wissenschaftlichkeit hat in keiner Weise eine Beschwerung des Werkes mit gelehrtem
Ballast zur Folge gehabt. In dem Texte ist jede Controverse absolut fernge¬
halten, und wo eine solche in den Noten, die übrigens meistens zu knnppeu
archivalischen Auszügen benutzt sind, einmal unvermeidlich ist, wird sie mit
möglichst wenig Worten abgethan.

Der Versasser ist bestrebt gewesen, schlicht und wahr zu erzählen. Nirgends
ist es auf packende oder gar aufregende Schilderungen abgesehen, nirgends auf
sensationelle Überraschungen oder auf historisches Blendwerk. Und dennoch
wird das Buch jeden Gebildete" sesseln, wohlthuend fesseln. Nirgends läßt
uns der Verfasser jenes Gleichgewicht der Seele verlieren, welches zur Sicher¬
heit des Urtheils unerläßlich ist. Ereignisse und Menschen ziehen in plastischer
Lebendigkeit an uns vorüber, aber wir kommen niemals in die Gefahr, mit
unsern eigenen Leidenschaften in das Treiben verwickelt zu werden, keinen
Augenblick verlassen wir die Position des Beobachters. Die Geschichtsbetrachtung
soll bilden, nicht unterhalten, vor allem aber nicht irgend welcher politischen
Tendenz dienen. Dieser Forderung ist hier muss beste genügt.

Es ist ein überaus weites Gebiet, welches der erste Band des Hille-
brandschen Werkes umfaßt. Neben den unausgesetzte" Kämpfen, welche das
Juliköuigthum während des ersten Drittels seiner Dauer im Innern Frank¬
reichs zu bestehen hatte, ist es das Verhältniß zu fast allen übrigen Staaten
Europas, welches eine eingehende und klare Darstellung erfährt. Die Stellung
des Thrones gegenüber den europäischen Mächten, die Anerkennnngsverhand-
lungen, die Lvßreißnng Belgiens von Holland, die Anfänge des herzlichen
Einverständnisses der Westmächte, der polnische Aufstand, die italienischen Un¬
ruhen -- alle diese Ereignisse und Verhältnisse entwickeln sich vor unsern
Augen mit einer Anschaulichkeit, einer Natürlichkeit und Einfachheit, welche die
mühsame Arbeit der Entwirrung verschlungener Fäden, der Lösung scheinbarer
Widersprüche gar nicht erkennen läßt und dadurch eben die Meisterhand bekundet.
Es würde eiuen eigenen Aufsatz erfordern, um darzustellen, was Hillebrand
neu an's Licht gezogen, und was er in maßgebender Weise berichtigt hat.

Von besonderem Interesse sind für uns Deutsche die Aufschlüsse, welche
das Berliner Archiv über das Verhältniß Preußens zum damaligen Frankreich
geliefert hat. Das Julikönigthum hätte allen Grund gehabt, Preußen dankbar


archivalische Studien zu machen. Zlvar nicht das französische Staatsarchiv
selbst hat ihm offen gestanden, überaus werthvolle Aufschlüsse aber hat er
namentlich aus den Archiven zu Berlin und Turm geschöpft. Die Berichte
der betreffenden Gesandten geben die letzte Handhabe, die reiche französische
Literatur zur Geschichte des Julikönigthums, namentlich die Memoirenliteratnr,
berichtigend und ergänzend zu controliren. Fügen Nur aber gleich hinzu: Die
Wissenschaftlichkeit hat in keiner Weise eine Beschwerung des Werkes mit gelehrtem
Ballast zur Folge gehabt. In dem Texte ist jede Controverse absolut fernge¬
halten, und wo eine solche in den Noten, die übrigens meistens zu knnppeu
archivalischen Auszügen benutzt sind, einmal unvermeidlich ist, wird sie mit
möglichst wenig Worten abgethan.

Der Versasser ist bestrebt gewesen, schlicht und wahr zu erzählen. Nirgends
ist es auf packende oder gar aufregende Schilderungen abgesehen, nirgends auf
sensationelle Überraschungen oder auf historisches Blendwerk. Und dennoch
wird das Buch jeden Gebildete» sesseln, wohlthuend fesseln. Nirgends läßt
uns der Verfasser jenes Gleichgewicht der Seele verlieren, welches zur Sicher¬
heit des Urtheils unerläßlich ist. Ereignisse und Menschen ziehen in plastischer
Lebendigkeit an uns vorüber, aber wir kommen niemals in die Gefahr, mit
unsern eigenen Leidenschaften in das Treiben verwickelt zu werden, keinen
Augenblick verlassen wir die Position des Beobachters. Die Geschichtsbetrachtung
soll bilden, nicht unterhalten, vor allem aber nicht irgend welcher politischen
Tendenz dienen. Dieser Forderung ist hier muss beste genügt.

Es ist ein überaus weites Gebiet, welches der erste Band des Hille-
brandschen Werkes umfaßt. Neben den unausgesetzte« Kämpfen, welche das
Juliköuigthum während des ersten Drittels seiner Dauer im Innern Frank¬
reichs zu bestehen hatte, ist es das Verhältniß zu fast allen übrigen Staaten
Europas, welches eine eingehende und klare Darstellung erfährt. Die Stellung
des Thrones gegenüber den europäischen Mächten, die Anerkennnngsverhand-
lungen, die Lvßreißnng Belgiens von Holland, die Anfänge des herzlichen
Einverständnisses der Westmächte, der polnische Aufstand, die italienischen Un¬
ruhen — alle diese Ereignisse und Verhältnisse entwickeln sich vor unsern
Augen mit einer Anschaulichkeit, einer Natürlichkeit und Einfachheit, welche die
mühsame Arbeit der Entwirrung verschlungener Fäden, der Lösung scheinbarer
Widersprüche gar nicht erkennen läßt und dadurch eben die Meisterhand bekundet.
Es würde eiuen eigenen Aufsatz erfordern, um darzustellen, was Hillebrand
neu an's Licht gezogen, und was er in maßgebender Weise berichtigt hat.

Von besonderem Interesse sind für uns Deutsche die Aufschlüsse, welche
das Berliner Archiv über das Verhältniß Preußens zum damaligen Frankreich
geliefert hat. Das Julikönigthum hätte allen Grund gehabt, Preußen dankbar


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/370>, abgerufen am 28.09.2024.